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Früher war der Fahrstuhleffekt, da ging es für alle nach oben - heute geht es auf diversen Rolltreppen wieder nach unten.

© imago/JOKER

Abstiegsgesellschaft Deutschland: Einmal unten, immer unten

Von der Aufstiegs- über die Risiko- zur Abstiegsgesellschaft: Oliver Nachtwey analysiert den Arbeitsmarkt und wie stabil der soziale Frieden in Deutschland ist.

Vor ein paar Tagen gab es gute Nachrichten von der Bundesagentur für Arbeit. Ihr Chef Frank-Jürgen Weise vermeldete für den Mai knapp 100 000 Arbeitslose weniger als im Vergleich zum Vorjahr und einen Rückgang der Arbeitslosenquote um 0,3 Prozent auf 6,0 Prozent. Und resümierte: „Der Arbeitsmarkt entwickelt sich insgesamt weiter positiv.“

In Deutschland läuft es also bestens, Richtung Vollbeschäftigung geht es gar, und dass trotz der nicht enden wollenden Finanz- und Wirtschaftskrisen in Europa, trotz bedenklich hoher Arbeitslosigkeit in Ländern wie Spanien oder Griechenland.

Deshalb verwundert es zunächst, wenn der Frankfurter Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey eine Untersuchung mit dem Titel „Die Abstiegsgesellschaft“ vorlegt und behauptet: „Aus der Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration ist eine Gesellschaft des Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung geworden.“

Das ist eine drastische, alarmistische Diagnose, hier scheint sich jemand als Kassandrarufer profilieren zu wollen. Doch Nachtwey hat Belege dafür gefunden, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt. Dessen Struktur hat sich in den vergangenen Jahrzehnten komplett verändert: weg von der Land- und Forstwirtschaft sowie der klassischen Produktionsindustrie, hin zur Dienstleistungsindustrie, wo inzwischen drei Viertel aller Beschäftigten ihr Auskommen haben. Allerdings handelt es sich dabei nicht, so Nachtwey, „um eine von der Industrie befreite, sondern um eine industrielle Dienstleistungsgesellschaft, in der die Logik der Industrieproduktion und die der Dienstleistungen miteinander verschmolzen sind.“

Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen beruht auf der Schaffung von McJobs

In dieser gibt es eine zunehmende Polarisierung der Berufsstruktur, mit mehr Höherqualifizierten auf der einen, aber eben auch mehr Niedrigqualifizierten auf der anderen Seite, mit entsprechenden Jobs in der Gastronomie, bei Discountern, in Call-Centern oder Reinigungs- und Sicherheitsfirmen. Dazu kommt, dass immer mehr Menschen befristete Arbeitsverträge haben oder bei Leihfirmen angestellt sind und infolgedessen nicht dieselben Rechte und Versicherungen haben wie Festangestellte. Nur noch zwei Drittel aller Beschäftigten in Deutschland befinden sich in einem sogenannten Normalarbeitsverhältnis, so Nachtwey.

Der Rückgang der Arbeitslosenzahlen beruht also auf der Schaffung von Kurzzeit- und Niedriglohnjobs. Nachtwey spricht von einer „prekären Vollerwerbsgesellschaft“, in der sich nicht nur der Arbeitsmarkt verändert hat, sondern auch das Demokratieverständnis und der Umgang mit Staatsbürgerrechten. Und die „in eine neue Klassengesellschaft“ führt: mit einer Oberklasse, die in ihrer eigenen Welt lebt, einer oberen Mittelklasse, die sich „koproduziert durch die zunehmende Praxis sozialer Schließungen und kultureller Distinktionen“, und dem großen Rest in Form der ängstlichen, bedrohten oder tatsächlich abstürzenden Mittelschichten sowie der Unterschicht mit ihren prekären Jobs und ihren kaum noch vorhanden Chancen, dieser zu entkommen.

Nachtwey nennt es "regressive Moderne"

Früher war der Fahrstuhleffekt, da ging es für alle nach oben - heute geht es auf diversen Rolltreppen wieder nach unten.
Früher war der Fahrstuhleffekt, da ging es für alle nach oben - heute geht es auf diversen Rolltreppen wieder nach unten.

© imago/JOKER

Nachtweys Buch ist mehr als nur eine Untersuchung der modernen Arbeitsgesellschaft in Deutschland: Der 41 Jahre alte Soziologe schlägt in fünf Kapiteln einen Bogen von der „sozialen Moderne“, wie er die Zeit des Aufstiegs und Wachstums der fünfziger- bis siebziger Jahre bezeichnet, über die regressive Moderne der Gegenwart und ihrer Abstiegskultur, bis hin zu den vielen neuartigen Protestformen, bei denen es um soziale Themen und demokratische Partizipation (Occupy, Stuttgart 21), aber auch um Abgrenzungen nach noch weiter unten und draußen geht (Pegida!).

Einer der wichtigsten Gewährsleute Nachtweys ist der am Neujahrstag 2015 verstorbene Soziologe Ulrich Beck, wie man schon an der Formulierung von der titelgebenden „Abstiegsgesellschaft“ bemerkt. Becks „Risikogesellschaft“ ist die Blaupause, auch weil sie auf die ersten schweren Wirtschaftskrisen in den siebziger Jahren folgte. Dem von Beck seinerzeit diagnostizierten „kollektiven Fahrstuhleffekt“, der alle nach oben fahren lässt, setzt Nachtwey die Rolltreppe entgegen, die nach oben wie nach unten führt, letzteres vermehrt. Darüberhinaus scheinen hier häufig Becks Konzept der „zweiten Moderne“ und der „reflexiven Modernisierung“ auf, woraus Nachtwey, zusätzlich angelehnt an die Kritische Theorie von Adorno/Horkheimer, unsere Gegenwart als „regressive Moderne“ konstruiert. In dieser trage der Fortschritt auch den Rückschritt in sich, „und dieser Rückschritt trifft meistens, freilich nicht immer, die Unterklassen.“ Und die Symptome dieser regressiven Moderne würden sich auf anderen gesellschaftlichen Feldern zeigen, in der parlamentarischen Demokratie („der Marktbürger ist im Grunde kein Bürger mehr, sondern ein Kunde mit Rechten“) oder im Bildungssystem, in dem Fleiß allein nicht mehr automatisch karrierefördernd ist, sondern Herkunft und Vermögen der Eltern wieder eine große Rolle spielen.

Es gibt eine politische Entfremdung in der Postdemokratie

Man merkt Nachtwey das Bemühen an, Begriffe zu prägen, die einmal zu Debattenschlagwörtern werden könnten. So smart wie bei Heinz Bude zum Beispiel kommt das allerdings nicht rüber, doch angenehmerweise auch nicht so essayistisch unbestimmt. Nachtwey hält sich an Zahlen und Fakten, auch an die, die er bei seiner Feldforschung in der Autoindustrie gemacht hat. Er bewegt sich genauso sicher im praktischen wie im theoretischen Zwischenreich von Ökonomie, Soziologie und Psychologie. Und er weiß um manchen Widerspruch seiner Diagnosen, etwa dass es in Deutschland nach wie vor mehr Aufsteiger als Absteiger gibt und man in den oberen Bereichen der Mittelschichten weiterhin mit viel sozialer Stabilität rechnen kann. Und dennoch: „Ulrich Beck nahm an, dass sich gesellschaftliche Risiken über soziale Grenzen hinweg demokratisieren würden. Das soziale Risiko wiederum ist asymmetrisch – und eben nicht demokratisch – gestiegen. Je weiter unten jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie steht, desto größer ist sein Risiko, weiter abzurutschen oder unten zu bleiben.“

Unscharf wird Nachtwey erst am Ende, das aber eingestandenermaßen, als er die verschiedenen Formen des Aufbegehrens gegen die neuen Zustände untersucht. Von einem „demokratischen Klassenkonflikt“ ist nun die Rede, von „politischer Entfremdung in der Postdemokratie.“ Hier die Stuttgarter Wutbürger, die Krankenschwestern und Erzieher, denen es weniger um Geld als vielmehr um Anerkennung geht, die Occupy-Bewegung. Und dort Pegida und die AfD mitsamt ihren sozialen Ausschlüssen und antidemokratischen Effekten. Der Protest in der Postdemokratie, er ist unübersichtlich geworden, situationistisch, oft schwer fassbar, er ist so ausdifferenziert wie die Gesellschaft selbst. Von einer Streikkultur, wie etwa in Frankreich, ist Deutschland weit entfernt. Und doch ist Nachtwey sich sicher, „dass wir in der nächsten Dekade auch in Deutschland eine Zunahme sozialer Konflikte erleben werden“.

Das wirkt etwas dahingeraunt, zumal Nachtwey keine Alternativen zur oder Auswege aus der Abstiegsgesellschaft benennt. Aber die Probleme der gegenwärtigen Entwicklung analysiert er präzise. Der Eindruck, Deutschland könne auf seiner Insel der ökonomisch Seligen so gar nichts passieren, der trügt.

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Edition Suhrkamp, Berlin 2016. 264 Seiten, 18 €.

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