"Nimm einen Hund rein" – Seite 1

ZEIT ONLINE: Vor knapp 20 Jahren startete Netflix als DVD-Versand. Inzwischen hat Ihr Streamingdienst 75 Millionen Abonnenten und ist in fast jedem Land der Welt verfügbar. Wo, denken Sie, steht Ihr Unternehmen in weiteren 20 Jahren?

Reed Hastings: Auf jeden Fall werden Ihre Enkel Sie fragen: "Was hieß das früher, die Sendung startet um 20 Uhr?" Die Freiheit des Nutzers wird weiter steigen. Und damit kommen wir wieder dahin zurück, wo wir bei Büchern bereits waren. Man kann lesen, wann man will und wie viel man will. Alles andere ist ein Lernprozess. Wir finden heraus, was funktioniert – davon machen wir mehr. Wir finden heraus, was nicht funktioniert – davon machen wir weniger. Aber wenn ich eine Prognose wage: Das Smartphone wird bis dahin viel mehr im Zentrum stehen. Und was die Inhalte angeht: Es wird viel mehr außerhalb der USA produziert werden.

ZEIT ONLINE: Am 5. Mai startet die erste europäische Serie, Marseille, ein Politdrama mit Gérard Depardieu in der Hauptrolle. Der Drehbuchautor Dan Franck sprach davon, eine Carte Blanche für die Produktion eines französischen House of Cards erhalten zu haben. Wie finden Sie heraus, was die Leute in Europa mögen? Alleine über die Daten, die Sie auf Ihrer Plattform sammeln?

Ted Sarandos: Ja, wir schauen uns an, was die Leute schauen. Welche unserer Inhalte werden in dem jeweiligen Land besonders gut bewertet? Welche Kinofilme sind erfolgreich? Das bringt viel mehr als Fokusgruppen und Umfragen. Man kann Leute natürlich fragen, was sie gerne sehen möchten. Aber es ist viel präziser zu sehen, was sie wirklich tun. Sie sagen dir sonst das, was du ihrer Meinung nach hören willst.

ZEIT ONLINE: Es gewinnt also, was am besten gefällt? Was machen Sie mit den Inhalten selbst?

Hastings: Wir nehmen nicht unsere Daten und sagen: "Nimm einen Hund rein. Serien mit Hunden laufen besser." Wir vermitteln den Kreativen: Mach deine Traumserie. Und wie immer du das tust, wir werden sie so breit wie möglich vermarkten.

ZEIT ONLINE: Behaupten Sie wirklich, dass Sie Ihren riesigen Datenschatz ignorieren, wenn es um die Inhalte geht?

Sarandos: Nein. Wir nutzen die Daten, um effizient zu kaufen. Um besser entscheiden zu können, wie groß die Marktgröße für ein bestimmtes Projekt ist. Zum Beispiel House of Cards: Wir rechnen: Wie viele Fans von David Fincher gibt es? Wie viele von Kevin Spacey, Robin Wright? Wie viele liebe Polit-Dramen? Wie viele Shakespeare-artige Geschichten? Das alles wissen wir und so können wir gute Prognosen abgeben. Wir investieren viel in Projekte, die ein großes Publikum ansprechen werden. Und wenig in Projekte, die ein kleines Publikum ansprechen. Aber wir wollen kein reverse engineering.

Alle lieben Adam Sandler

ZEIT ONLINE: Wobei Sie genau dieses umgekehrte Entwickeln betreiben könnten. Das fertige Produkt untersuchen, die besten Einzelteile herausnehmen und daraus wieder etwas Neues bauen. Sie wissen, wonach sich die Leute sehnen.

Sarandos: Absolut. Zum Beispiel nach Filmen mit Adam Sandler. Die Daten haben uns gesagt, dass diese Filme überall auf der Welt beliebt sind. Die konventionelle Meinung war: Amerikanische Komödien gehen nicht gut um den Globus. Wir behielten recht. Aber wir würden Adam Sandler inhaltlich nicht reinreden.

ZEIT ONLINE: Sie geben Ihren Serienmachern also keinen Katalog mit Anforderungen mit?

Sarandos: Nein, als Kreativer würde man unter diesen Bedingungen nicht arbeiten wollen. Es gab Experimente, Storytelling und Kreativität von hinten aufzuzäumen. Die Ergebnisse waren verheerend. Es wäre Frankenstein.

"Wir sind zum Sehnsuchtsort vieler regionaler Geschichtenerzähler geworden"

ZEIT ONLINE: Bald gibt es die erste deutsche Netflix-Serie, die Familiensaga Dark. Schon der Name zeigt, dass Sie international denken. Sehen Sie Dark überhaupt als deutsche Serie?

Sarandos: Eben nicht. Sie würden Narcos vermutlich auch nicht als kolumbianische Serie ansehen, selbst wenn sie auf Spanisch gedreht ist und in Kolumbien spielt. Das verstehen wir unter globalem Fernsehen. Die Menschen schauen es überall auf der Welt, auch in Deutschland.

Hastings: Narcos ist ein gutes Beispiel. Produziert von einer französischen Firma, gedreht in Kolumbien, mit brasilianischem Protagonisten. Und unglaublich beliebt in Deutschland. Das ist die Zukunft, wir produzieren auf der ganzen Welt und zeigen es der ganzen Welt.

Sarandos: Viele Konflikte sind ja universell. House of Cards etwa fühlt sich mehr nach Shakespeare an als nach Amerika. Die amerikanische Politik ist interessant, aber fasziniert sind die Leute, weil es auf der ganzen Welt ähnliche politische Probleme gibt.

ZEIT ONLINE: Wie kommen Sie an die Stoffe für Ihre europäischen Produktionen?

"Wenn uns ein Markt wichtig ist, produzieren wir"

Sarandos: In den USA haben wir Hunderte Pitches jede Woche, so umfangreich können wir das in anderen Ländern nicht bewerkstelligen. Aber wir haben ein Team, das nichts anderes tut, als sich weltweit Projekte anzuschauen. Glücklicherweise sind wir aber zum Sehnsuchtsort vieler regionaler Geschichtenerzähler geworden.

Hastings: Für Filme ist der beste Ort immer noch ein Festival. Berlinale, Venedig, da schauen sich unsere Einkäufer um.

Sarandos: Ja, manchmal machen auch wir noch ganz traditionelle Dinge. Zumindest, wenn sie effizient sind.

ZEIT ONLINE: Wird es denn weitere deutschsprachige Serien geben?

Hastings: Auf jeden Fall. Details kann ich noch nicht verraten. Aber schauen Sie auf Märkte, in denen wir schon länger sind: Mexiko oder Brasilien. Dort haben wir viele Programme in Originalsprache. Wenn uns ein Markt wichtig ist, produzieren wir.