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Politikpsychologe im Interview "Jeder hat eine Verantwortung für den Scheiß, den er liest!"

Ein wirksames Heilmittel gegen Angst ist Milde. Weiß Seneca, römischer Philosoph. Bei Verschwörungstheoretikern, Trump und anderen Menschen, die im postfaktischen Zeitalter angekommen sind, hilft das leider nicht. Wer mild ist und sachlich argumentiert, wird nicht beachtet – oder niedergebrüllt. Was kann man also tun? Wie dem Postfaktischen begegnen? Ein Interview mit dem Politikpsychologen Thomas Kliche.

Verschwörungstheoretiker werfen ihren Mitmenschen gerne vor, zu lügen. Dabei glauben sie selbst nicht an Fakten, nehmen sich selbst nicht als Lügner wahr. Wie kommt das?

Wir verwenden unterschiedlich viel Zeit darauf, unsere Ansichten in Frage zu stellen und durch belastbare Tatsachen und Daten zu prüfen. Oft überzeugen sich Menschen selbst von ihren eigenen Irrtümern oder Lügen, wenn sie die nur oft genug hören, wiederholen und von anderen bestätigen lassen. Doch Selbstbetrug macht blöd – ein gefährlich hoher Preis in dieser Zeit tiefen Umbruchs. 

Ist Selbstbetrug nicht menschlich? Jeder redet sich doch manches schön.

Das ist alles menschlich, sonst würde es uns nicht passieren. Nur ist es sehr gefährlich. 

Ab wann?

Wenn geschlossene Weltbilder entstehen, die zu Rückzug auf Wir-Gruppen und Aggression gegen andere anleiten und gängige Datenquellen entwerten, also etwa Forschung, Statistiken, Zeitungen. Dann kann es unglaublich schnell gehen.

Durch Fake News im US-Wahlkampf verliert Facebook an Glaubwürdigkeit. Wie gefährlich ist es, seine Informationen allein über Facebook zu beziehen?

Facebook allein reicht nicht mal für solide Halbbildung.

Wir sollten unser Informationsverhalten knallhart staffeln: Die Hälfte der Zeit, die wir dafür haben, sollten wir für gute Bücher reservieren, ein Viertel für Qualitätsmedien, und ein Viertel für den ganzen elektronischen Schnickschnack. 

Ist es gerade für junge Menschen realistisch, eine solche Informationseinteilung zu verlangen?

Ich sehe keine Alternative. Jeder hat eine Verantwortung für den Scheiß, den er liest! Langfristig wird das Informationsverhalten sich sowieso so ausrichten, und es wird die Schlauen von den anderen unterscheiden. Unsere Gesellschaft lernt ja gerade, wie das Internet unsere Hirne durch die Vermarktung von Halbwissen und persönlichen Daten vergiften kann. Je hektischer aber der tausendfältige Murks durch Internet und Handy geistert, desto wichtiger wird echte Bildung. 

Bin ich also automatisch unvernünftig, wenn ich die Hälfte meines Informationsgewinns aus „technischem Schnickschnack“ beziehe?

Ich würde sagen: ja. Man kann Wissenswertes auch einen Tag später erfahren, das ist schnell genug, von Börsenspekulationen mal abgesehen. Die Gesellschaft könnte auseinanderfallen: einerseits Facebook-Zombies, die glücklich grinsend ihren Vorurteilen hinterhertaumeln. Andererseits die Menschen, die ihr Orientierungsvermögen bewahren und neue Wege finden. 

Die Lösung sollte doch nicht sein, dass die Gesellschaft auseinanderfällt.

Das passiert ja bereits in Ansätzen. Ein Verschwörungstheoretiker bekommt eine unglaubliche Mengen an Internetbelegen, dass er recht hat, teilweise wissenschaftlich und seriös eingekleidet, unterstützt von anderen Internet-Quellen, die sich wiederum auf ihresgleichen stützen. Google und Facebook haben Geschäftsmodelle daraus gemacht, uns in unserem So-Sein, unseren Ansichten und Wünschen ständig zu bestärken. 

Wie sollte jemand an diesen Faktencheck herangehen, der glaubt, dass die Wissenschaft vom Staat instrumentalisiert wird?

Wer Behörden, Wissenschaft und Medien für korrupte Marionetten irgendwelcher Verschwörungen hält, die oft „System“ oder so heißen, dem ist mit Tatsache kaum beizukommen. 

Wie viele solcher Menschen gibt es?

Ich schätze 15 bis 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. 

Ist die Zahl in den vergangenen Jahres gestiegen?

Es sind dramatisch mehr geworden durch die Krisen der vergangenen Jahre. In schwer überschaubaren Bedrohungslagen ist es einfacher zu glauben, dass jemand im Hintergrund die Fäden zieht. 

Gibt es eine psychologische Beschaffenheit, die Verschwörungstheoretiker teilen?

Gerade unsichere Menschen suchen in Krisenzeiten Klarheit und Orientierung. Diese so genannte Autoritäre Reaktion begünstigt auch Aberglauben. Die Menschen wünschen sich dann eine klar geordnete Welt, Oben und Unten, Drinnen und Draußen. Das Schwarz-Weiß-Denken nimmt zu. Das zeigt eine Fülle internationaler Studien. Für Menschen mit einem solch starken Bedürfnis nach Eindeutigkeit ist es tröstlich, an eine Verschwörung zu glauben. Dann ist die Welt wieder überschaubar. 

Wie sieht dieser Machtkampf aus, wenn „die Anständigen“ die Mehrheit überzeugen möchten?

Derzeit sind die Anständigen, soweit ich sehe, die klare Mehrheit. Also erst einmal: Nerven behalten, nicht vom Geschrei einschüchtern lassen. Zweitens: Zeugnis ablegen für die richtige Überzeugung. Auch bei Familien und Freunden deutlich machen, dass Demokratie und Menschenrechte die Grundlage jeder ernsthaften Diskussion sind, sonst ist es keine. Drittens: die Zivilgesellschaft entwickeln. Rein in Vereine, Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften, Kirchen, Parteien, Bürgerinitiativen. Miteinander füreinander! Das ist sinnvolles Leben, das gibt Kraft. Wir bauen heute eine gute Zukunft, alle zusammen.

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