Die Wahl von Donald Trump hat einen scheinbaren Widerspruch in den USA aufgedeckt. Viele seiner Wähler, vor allem in den ehemaligen Industrieregionen in der Mitte und im Süden des Landes haben das Gefühl, dass ihr Leben und die Zukunftsaussichten ihrer Kinder sich stetig verschlechtern. Dabei zeigen die offiziellen Statistiken ein ganz anderes Bild. So hat sich die Wirtschaft seit der Großen Rezession 2009, wenn auch langsam, wieder erholt. Die Arbeitslosigkeit, die während der Krise auf über neun Prozent hochgeschnellt war, ist im November auf 4,6 Prozent gesunken. Nach Auffassung der Volkswirte kommt dies der Vollbeschäftigung nahe. 

Doch einen Indikator gibt es, der dem rosigen Anschein widerspricht. Es ist die Zunahme der Erwerbsunfähigkeit. Die Zahl der Amerikaner im erwerbsfähigen Alter, die von der staatlichen Invalidenrente leben, ist inzwischen auf knapp neun Millionen angeschwollen, das entspricht über vier Prozent. 1970 waren es lediglich 1,3 Prozent. Rechnet man die Angehörigen dazu, erhalten rund elf Millionen Amerikaner Bezüge von der staatlichen Invalidenrente. Die Ausgaben für die Rentenkasse, die bei Invalidität zahlt, zusammen mit der Gesundheitsversorgung der Erwerbsunfähigen betrugen im Jahr 2015 rund 228 Milliarden Dollar oder 1,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 

Eine Ursache für den Anstieg der Erwerbsunfähigkeit ist, dass die amerikanische Bevölkerung – wie die der meisten westlichen Industrienationen – älter wird und damit anfälliger für Krankheiten. In den vergangenen Jahrzehnten ist zudem die Zahl der erwerbstätigen Frauen gestiegen und damit die Zahl derer, die grundsätzlich eine Invalidenrente in Anspruch nehmen können.

Doch der demografische Wandel erklärt die Entwicklung nur zum Teil. Zum einen sind viele 50-Jährige heute gesünder als ihre Altersgenossen in den 80er Jahren. Die Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz und die medizinische Versorgung sind besser geworden. In einer Studie im Auftrag des öffentlichen Wirtschaftsforschungsinstitut National Bureau of Economic Research kamen die Ökonomen Mark Duggan und Scott Imberman zu dem Schluss, dass der Anstieg der Erwerbsunfähigkeit nur zu einem geringen Teil auf den steigenden Altersdurchschnitt zurückzuführen ist. Bei Frauen erkläre die Alterung 4 Prozentpunkte der Zunahme, bei Männern 15 Prozentpunkte. 

Hilfe auch für alleinstehende Männer

Der Rest ist auf eine Kombination von zwei Faktoren zurückzuführen: Es ist einfacher geworden, als erwerbsunfähig anerkannt zu werden – und schwieriger, einen Arbeitsplatz zu finden. 

Die staatliche Invalidenrente ist einer der letzten verbliebenen Teile des sozialen Absicherungsnetzes in den USA und eines der ganz wenigen öffentlichen Hilfsprogramme, das auch alleinstehende Männer ohne Kinder in Anspruch nehmen können. Der Kongress führte das Social Security Disability Insurance Program oder SSDI im Jahr 1956 ein. Arbeitnehmer zahlen Pflichtbeiträge. Als Ronald Reagan, der staatliche Leistungen auf ein Minimum kürzen wollte, in den 80er Jahren die SSDI-Versicherung ins Visier nahm, unterlief der Kongress seine Bemühungen: Die Abgeordneten stimmten dafür, die Bedingungen für die Anerkennung einer Erwerbsunfähigkeit zu lockern.

Das hatte weitreichende Folgen. Während Anfang der 60er Jahre über ein Viertel der Rentenempfänger Herzerkrankungen und Schlaganfälle als Ursache für die Erwerbsunfähigkeit meldeten, ist heute mehr als die Hälfte wegen Schmerzen und seelischer Probleme nicht in der Lage zu arbeiten. Das sind Beschwerden, bei denen die Grenzen zwischen einer völligen Erwerbsunfähigkeit und ihrer bloßen Beeinträchtigung fließend sind.

Auffällig ist die geografische Verteilung der Empfänger der staatlichen Schecks. Sie leben vor allem in den armen Kohlerevieren der Appalachen, im Süden, wo die Textilfabriken sich in den vergangenen Jahrzehnten nach China verabschiedet haben, und in den Industrieregionen der Mitte des Landes, deren Boom ebenfalls schon lange vorbei ist. Volkswirte haben sogar schon einen Namen für das Phänomen, sie sprechen vom "Invalidengürtel". Der Schluss liegt nahe: Viele der Arbeiter, die ihre Stelle in der Industrie verloren haben, haben weder die Branche gewechselt noch sich arbeitslos gemeldet. Stattdessen stellten sie den Antrag auf Invalidenhilfe.