Zukunft der Marktforschung

Ideengeber werden überleben

Michael Pusler ist Hochschuldozent für das Fachgebiet „Markt-/Medien- und Werbepsychologie“.
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Michael Pusler ist Hochschuldozent für das Fachgebiet „Markt-/Medien- und Werbepsychologie“.
Ein Plädoyer zur Renaissance der Methoden der empirischen Sozialforschung hat Michael Pusler für das Buch „Zukunft der Marktforschung“ geschrieben. Mit-Herausgeber Hans-Werner Klein befragt nun seinen Autor, den Hochschuldozenten für Markt-, Medien- und Werbepsychologie, zu disruptiver Marktforschung und ihren Grenzen.
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Hans-Werner Klein: Herr Pusler, hat Ihr Beitrag zur „Marktforschung der Zukunft“ eigentlich neun Monate nach Veröffentlichung noch Bestand, oder ist er disruptiv hinweg gefegt worden, von Innovatoren innerhalb oder ausserhalb der Branche, von Beiträgen auf Konferenzen oder aus der Wissenschaft?
Michael Pusler: Ich glaube kaum, dass der gegenwärtige Hype um Disruption oder Innovation meinen Überlegungen zur Bedeutung der Psychologie im Marketing die Aktualität rauben kann. Im Gegenteil. Als disruptiv werden ja zumeist technische Innovationen im Bereich der automatischen Datengenerierung angesehen, die uns oftmals mit einem Datenwirrwarr orientierungslos zurücklassen. Es bleibt die Frage nach der Interpretation und Einordnung der immensen Fülle von Daten. Diese Frage wird nach meiner festen Überzeugung immer relevanter und sollte insbesondere im Bereich der Prognose von Konsumentenverhalten vermehrt gestellt werden, da es hier keine bewährten Modelle gibt. Die „Sinngebung“, der Bezug der Daten zu Fragen und Antworten, ist sowieso „Menschensache“. Das menschliche Gehirn ist eben kein Schachcomputer, künstlicher Intelligenz fehlt Emotion und Intuition. Ein Beispiel aus der Forschung zum Neuromarketing macht dies deutlich: Die Reaktion eines Hirnareals auf einen Reiz besteht aus vermehrter Tätigkeit.

Diese können wir mit bildgebenden Verfahren erfassen. Die Interpretation, die Deutung ist jedoch der bedeutend schwierigere Teil des Prozesses. Dazu benötigen wir menschliches Expertenwissen und realitätsgerechte Modelle, wie sie etwa von Daniel Kahneman zur Prospect Theory oder von Gerd Gigerenzer zu Entscheidungen nach Bauchgefühl sowie bei Risiko vorgelegt wurden. Solche Modelle geben uns Auskunft darüber, wie menschliches Denken und Handeln funktionieren.
Michael Pusler
ist Diplom-Psychologe, Gründer von www.mpresearch.de und Hochschuldozent für das Fachgebiet „Markt-/Medien- und Werbepsychologie“. Neben seinen beruflichen Stationen bei der GIM, Infratest Wirtschaftsforschung (heute Kantar TNS), Hubert Burda Media, IMUK und Mediaplus war er u. a. Mitglied des Bundesvorstandes der Markt- und Sozialforscher (BVM), technischer Delegierter des VDZ bei der Erstellung der europäischen Forschungsnorm CEN15707 und Delegierter in der technischen Kommission der Arbeitsgemeinschaft Mediaanalyse (ag.ma).
Damit sind wir beim Punkt, dass die Marktforschung einen Fundus an Methoden und Modellen bereithält, die es auch wieder neu zu entdecken gilt … 
Genau, um nicht das Rad immer neu zu erfinden, sollte auf bewährte Ansätze innerhalb der Wirtschaftspsychologie – die sich parallel zum technischem Fortschritt ebenso weiterentwickelt haben – vermehrt zurückgegriffen werden. Und das tue nicht nur ich, sondern viele Kollegen – Tendenz steigend. Die Behavioral Economics, die menschliches Entscheiden in weiten Teilen auf Heuristiken basierend erklären, also mit Daumenregeln, die hohe Komplexität erreichen können, erleben momentan einen regelrechten Hype. Ausschlaggebend dafür war sicherlich der Besteller von Daniel Kahneman: „Schnelles Denken, langsames Denken“. Und übrigens: Auch disruptive Unternehmen wie Google betreiben intensiv Marktforschung – mit Marktforschungsdienstleistern, und nicht nur über eigene Algorithmen.

Besteht die Gefahr, dass „die Marktforscher“ überleben, aber die klassischen Institute und Dienstleister aussterben?
Vielleicht kann man hier eine Analogie zum „Rieplschen Gesetz“ ziehen: Kein etabliertes Medium wird vollständig von neuen ersetzt, kann sich aber in einer veränderten Rolle oder Aufgabe wiederfinden. Zeitung, Radio, Telefon, Kino, TV, Internet, Youtube, SMS, WhatsApp, FaceBook, Twitter gibt es alles nebeneinander. Auf die Marktforschung übertragen, heißt das: Die Notwendigkeit der Marktforschung besteht, auch wenn Institute immer wieder neue, andere Funktionen innerhalb des Prozesses übernehmen.
Hans-Werner Klein
Hans-Werner Klein
ist CIO der Twenty54Labs – Experte für Datawork in Industrie und Marktforschung.
Wie erklären Sie sich, dass unsere methodischen Innovationen wie Neuronale Netze und Pfadanalyse gegen herkömmliche Verfahren wie eine Kreuztabelle und Balkendiagramme beim Kunden kaum eine Chance haben? Wir könnten doch das Verhalten des Menschen besser mit solchen modernen Modellen erklären. 
Wir können unsere Kunden auch ein Stück weit für komplexere Darstellungen begeistern. Zugegeben, Pfadanalysen oder Strukturgleichungsmodelle sind „schwere Kost“. Die werden aber verdaulicher, wenn man den Kern, also das zentrale Ergebnis herausstellt. Wir alle – auch unsere Kunden – lieben doch Einfachheit. Und ein gut hergeleitetes Strukturgleichungsmodell liefert eben auch eine plausible Story über einen komplexen Zusammenhang, sei es die Werbewirkung oder KPIs, die den Wert einer Marke bestimmen. 

„Kortikale Entlastung“ ist ein treffender, von Ihnen verwendeter Begriff dafür. Sie zielen dabei auf das Thema „man kauft, was man kennt“. Wie können wir als Marktforscher unsere Kunden „kortikal entlasten“ und trotzdem innovativ disruptiv sein? 
Der Begriff stammt nicht von mir selbst. Den habe ich 2003 erstmals von dem Münsteraner Neuroökonomen Peter Kenning und dem Neurophysiker Michael Deppe gehört. Auch wenn die Befunde nicht für alle Kaufentscheidungen generalisierbar sind, steckt viel Wahrheit darin. Kortikal entlasten und trotzdem disruptiv sein zu können, ist kein Widerspruch. Von daher darf das „trotzdem“ hier ruhig entfallen. Bei der kortikalen Entlastung kann man sich viel von erfolgreichen Konsumenten-Marken abschauen. Die haben es geschafft, sich in unseren Köpfe fest zu verankern, ja teilweise sogar stellvertretend für eine Produktkategorie zu stehen. Denken Sie an Tempo oder Nivea. Hinter einer solchen Marke steckt aber langjährige, gleichbleibende Qualität, ein klares Profil, relevanter Produktnutzen bei gleichzeitig hoher Verbindlichkeit. Und das können Dienstleister auch liefern. Dann muss der Kunde nicht groß überlegen, auf wen er bei einer neuen Aufgabenstellung zurückgreift, die Marktforschung erfordern. Nichts anderes ist es, „kortikale Entlastung“ zu schaffen.

Damit spielt auch der persönlich bekannte Marktforscher eine entscheidende Rolle?
Marktforschung ist „Peoples Business“ - der beratende Marktforscher ist also eher ein Berater mit Marktforschungshintergrund und Marktforschungswissen.
Hat die Marktforschung denn nun ein Innovationsproblem? Wird sie der „neuen Wirklichkeit“ nicht mehr gerecht?
Verfolgt man die aktuellen Diskussionen um und innerhalb der Marktforschungsbranche, dann fällt auf, dass sie sich in Zeiten von Big Data und immens leistungsfähigen Datengeneratoren zumeist um die technische Machbarkeit drehen. Nur noch selten, so der Eindruck, lassen sich inhaltliche oder methodische Neuerungen darüber ausfindig machen, wie der Gegenstand der Betrachtung, nämlich der Konsument, in seinem Verhalten besser verstanden werden kann und wie sein zukünftiges Verhalten, insbesondere unter dynamisch sich verändernden individuellen wie gesellschaftlichen Lebensbedingungen, besser vorhergesagt werden kann. Algorithmen basieren ja in erster Linie auf linearen Modellen und greifen bei der Vorhersage auf Bekanntes zurück. Vielleicht, so könnte man mutmaßen, ist ja wirklich schon alles gesagt, was Erklärungs- und Begründungszusammenhänge anbelangt und es geht heute wirklich nur noch um Kosteneffizienz für eine in ihrem Markt immer weiter an Wert verlierende Ware „Marktforschung“, wie ich es im Buch näher ausführe. Ich habe aber den Eindruck, dass oftmals darin nicht die alleinige Lösung gesehen wird. Wie sonst wäre es denn zu erklären, das trotzdem die qualitative Marktforschung eine hohe Nachfrage beispielsweise bei strategischen Projekten oder ethischen Themen, wie in der Pharmaforschung, erfährt. Und um es abschließend nochmals zu bekräftigen: Algorithmen, die häufig in gleichem Atemzug mit disruptiver Veränderung und Big Data genannt werden, setzen ja in erster Line auch nur auf Bekanntem auf. Und Menschen „erfinden“ sich nun eben auch manchmal gerne neu.

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