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Sehnsucht nach Identität Warum es keine Leitkultur gibt

Diskussionen um Heimat und Identität verlaufen häufig emotional. Muss das so sein? Der Philosoph François Jullien klärt auf - und zeigt, warum solche Debatten die wahren Probleme verschleiern.

Zuletzt erkannte Außenminister Sigmar Gabriel im SPIEGEL eine Sehnsucht derer, die sich "unwohl, oft nicht mehr heimisch und manchmal auch gefährdet" sehen. Eine Sehnsucht nach einem "sicheren Grund unter den Füßen". Umverteilung, ja, für Gabriel auch wichtig, aber: "Im Kern geht es (…...) um eine kulturelle Haltung und um Fragen nach Identität."

Wer sich bedroht fühlt, kann die Sehnsucht nach einem sicheren Grund affektiv nachvollziehen. Ein Grund, warum die vielen Diskussionen um Identität und Heimat meist emotional aufgeladen sind. Gleichzeitig suggerieren solche Debatten unhinterfragte, eindeutige Zuschreibungen. Am Beispiel Sigmar Gabriel: einerseits der Arbeiter als eigentliche Kernklientel der SPD, andererseits eine Auflösung von Strukturen, political correctness, Ehe für alle, und "Postmodernismus". Eine, vorsichtig formuliert, problematische Gegenüberstellung. Exemplarisch ist der Beitrag auch, indem er das Wort "Identität" ins Feld führt, um Klarheit zu schaffen, ohne zu klären, von was überhaupt gesprochen wird.

Wer wissen will, wie man in der Diskussion vernünftiger argumentieren kann, sollte das Buch des französischen Philosophen François Jullien über kulturelle Identität lesen. Denn anhand der Begriffe, die er vorschlägt, lassen sich Vorstellungen vom Eigenen und vom Fremden, vom Behaglichen und vom Irritierenden überprüfen.

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Jullien, François

Es gibt keine kulturelle Identität: Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur (edition suhrkamp)

Verlag: Suhrkamp Verlag
Seitenzahl: 80
Für 10,00 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

19.04.2024 12.02 Uhr

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Die Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine kulturelle Identität, wurzelt darin, dass in der Kategorie des Unterschieds über Kulturen nachgedacht wird: hier die eigene Kultur, dort die fremde, hier die eine Lebensweise, dort die andere. Und die heute unvermeidliche Konfrontation wird dann - je nach politischer Präferenz - als Bereicherung des Eigenen, als Belastung oder als potenzielles Bürgerkriegsszenario imaginiert.

Jullien verortet sich jenseits dieser Positionen. Einer seiner zentralen Vorschläge lautet schlicht, nicht mehr in Unterschieden zu denken, sondern in Abständen. Und, in einem zweiten Schritt, nicht mehr von kultureller Identität, sondern von kulturellen Ressourcen zu sprechen. Diese umfassen etwa Sprache, Alltagsbräuche, religiöse und philosophische Traditionen, Kunst und Literatur. Zwischen den kulturellen Ressourcen bestehen Abstände, keine kategorischen Unterschiede.

Das impliziert nicht automatisch ein harmonisches Miteinander: Im Abstand liegt "ein Dazwischen, das kein Kompromiss ist, kein einfaches Mittelding, sondern ein In-Spannung-Versetzen, sodass sich beide Strömungen gegenseitig beleben", schreibt Jullien. Europa beispielsweise ist weder in erster Linie laizistisch, noch christlich. Es ist "zugleich christlich und laizistisch (und Weiteres)".

Das Bekenntnis zu einer Kultur entpuppt sich als leer

Kulturelle Ressourcen stehen prinzipiell allen zur Verfügung. Man kann sie nicht verteidigen, aber man kann sie nutzen und so lebendig halten - in dem Wissen, dass gerade das Treffen im Dazwischen fruchtbar sein kann. Dem entspricht die These, dass es eine Leitkultur als etwas fixes Eigenes prinzipiell nicht geben kann: "Die Transformation ist der Ursprung des Kulturellen, und deshalb ist es unmöglich, kulturelle Charakteristiken zu fixieren". Das Bekenntnis zu einer Kultur entpuppt sich so immer wieder als leer, weil es die Fiktion einer definierbaren Identität gerade voraussetzt.

Jullien sieht durchaus die Gefahr einer Homogenisierung und Verflachung von Kulturen. Diese Gefahr aber gehe nicht von einem Kampf zwischen verschiedenen Lebens- und Denkweisen aus, sondern von der homogenisierenden Kraft eines globalisierten Marktes.

François Jullien: ein Dazwischen, das kein Kompromiss ist

François Jullien: ein Dazwischen, das kein Kompromiss ist

Foto: Charles Platiau/ REUTERS

Zentral in Julliens Denken ist nicht, wie man das Eigene fixieren kann. Zentral ist die Frage, wie man kulturelle Ressourcen jedweder Art nutzen und sie so lebendig halten kann. Zu verteidigen wären also keine klar definierten kulturellen Werte. Zu verteidigen wären gerade die kulturellen Ressourcen in ihrer Vielfalt. Und verteidigen heißt in diesem Zusammenhang, dass man sie nicht beschwört, sondern nutzt, egal, wo man herkommt und welche Kultur man angeblich "hat".

Gelöst ist mit dieser begrifflichen Neujustierung natürlich noch nichts. Anders denken ließe sich aber schon mal. Von Julliens Überlegungen aus weiterzugehen, erscheint wesentlich fruchtbarer als die hundertste Heimat- oder Identitätsdebatte. Wie wäre es, wenn man die Diskussionen um den überfrachteten Begriff beiseitelässt und sich Gedanken macht, um was es eigentlich gehen könnte, wenn von dem Wunsch nach kultureller Identität die Rede ist?

Meine Vermutung: um Liebes-, Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen, die tragen, wo es nötig ist, aber einen trotzdem selbstständig gehen lassen. Um eine nicht zuletzt materielle Sicherheit, die eine möglichst freie Entfaltung ohne Angst erlaubt. Das Versprechen auf eine klare, feste kulturelle Identität kann da immer nur Ersatz sein. Wären all diese Sicherheiten gegeben, die Diskussion wäre wohl schnell an ihrem wohlverdienten Ende.