Gut verbrachte Zeit – Seite 1

Horrormeldungen über das Smartphone werden gern mit wohligem Schauder gelesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Leser selbst eins hat, geht gegen 100 Prozent, und in die Vorstellung, dass dieses Gerät einen fester im Griff hat als man selbst es in der Hand, kann man sich einen kurzen Moment lang hineingruseln – bevor man es wieder nutzt, um die praktischen oder unpraktischen Dinge des Lebens zu regeln.

"Haben Smartphones eine Generation zerstört?", fragte im vergangenen Sommer ein Artikel des amerikanischen Kulturmagazins The Atlantic, das für fundierte Essays und Reportagen bekannt ist, aber auch für einen Sound des Untergangs. Die Autorin Jean M. Twenge erforscht an der University of San Diego das Verhalten amerikanischer Jugendlicher. Seit 2012 veränderten Jugendliche sich auf eine Weise, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht vorgekommen sei, schrieb Twenge. Die Teenager der 2010er-Jahre dächten nicht nur anders über sich und die Welt – das passiere bei Generationenwechseln immer –, sie hätten auch einen völlig anderen Bezug zu ihrer tagtäglich gelebten Zeit.

Weniger Schlaf, weniger Sex, weniger Führerscheine

Junge Amerikaner gehen heute viel seltener aus dem Haus als noch Mitte der Nullerjahre, sie verbringen deutlich weniger Zeit mit ihren Freunden, sie haben weniger Dates und weniger Sex, fangen später mit dem Geldverdienen an, machen seltener den Führerschein, wohnen länger bei ihren Eltern, schlafen schlechter und weniger, nehmen mehr Antidepressiva und begehen häufiger Selbstmord. Zwar hatte Twenge auch ein paar gute Nachrichten – Jugendliche werden seltener Opfer von Straftaten und trinken weniger Alkohol –, aber das Bild, das sie von der amerikanischen Jugend zeichnete, war dunkelgrau bis düster: Hier wächst eine Generation von depressiven, ängstlichen Stubenhockern heran.

Für all diese Dinge hatte die Psychologin eine einzige Erklärung parat: Smartphones und Social Media. Ständig verfügbare Bildschirme und Apps, die dafür sorgten, dass man ständig auf sie schaut – die Generation der nach 1995 Geborenen ist die erste, die eine Jugend ohne Smartphone und Facebook nicht mehr kennt.

Dass mehr Screentime weniger Zeit für alles andere bedeutet, wäre 2017 keine Nachricht gewesen. Seinen apokalyptischen Punch bekam der Artikel dadurch, dass er einen eindeutigen, negativen Zusammenhang zwischen Bildschirmnutzung und Wohlbefinden behauptete: Es sei egal, was genau Jugendliche mit ihren Smartphones, Tablets oder Laptops täten. Statistisch gesehen mache jede weitere Viertelstunde vor dem Bildschirm sie zu unglücklicheren Menschen. "Jede Bildschirmaktivität korreliert mit einem geringeren Glücksempfinden, jede Aktivität ohne Bildschirm mit einem gesteigerten. Es gibt keine einzige Ausnahme." Amerika stecke in der schlimmsten mental health crisis seit Jahrzehnten.

Größte Gesundheitskrise seit Jahrzehnten

Twenges Artikel wurden hunderttausendfach geteilt, von Fachkollegen aber scharf kritisiert. Sie habe sich aus einer Vielzahl von Studien einfach die passendsten Zahlen herausgepickt, Korrelationen mit Kausalitäten verwechselt und all die verschiedenen Arten, wie man Bildschirmgeräte nutzt, in einen Topf geworfen. Trotzdem verpuffte ihr Beitrag nicht. Zu gut passte er zur 2017 dominierenden Erzählung, dass sich die Disruptionskraft der kalifornischen Techbranche nicht mehr nur gegen veraltete Mitbewerber oder gegen autoritäre Regime richte, sondern gegen die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft selbst.

Anfang Januar haben sich nun zwei institutionelle Investoren von Apple in einen offenen Brief an das Unternehmen aus Cupertino und stellvertretend an das gesamte Silicon Valley gewandt. Der Brief trägt den Titel "Denkt anders über Kinder" und beruft sich ausdrücklich auf Twenges und einige andere Untersuchungen über das Sozialverhalten, die psychische Belastbarkeit und die Konzentrationsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen mit hohem Bildschirmkonsum. Fast alle amerikanischen Teenager benutzen täglich ein Smartphone, mehr als die Hälfte besitzt selbst eins – im Schnitt vom zehnten Lebensjahr an. Die Hälfte dieser minderjährigen Smartphonebesitzer gibt an, "süchtig" nach dem Gerät zu sein. Die Forderung an das Valley lautet: Stellt endlich Geräte her, die je nach Altersstufe anders mit ihren Nutzern umgehen.

Zuckerberg antwortet in der Sprache seiner Kritiker

Man könnte jetzt einwenden, dass bisher noch jede neue Technologie als eine Gefahr für die Jugend hingestellt wurde. Auch das Taschenbuch oder der Walkman waren irgendwann einmal Schritte in Richtung mobile, immersive Mediennutzung; Kulturkritiker sahen in ihnen die Zeichen des Verfalls. Über bloßen Kulturpessimismus, für den sich im Silicon Valley sowieso niemand interessieren würde, ist die Kritik an Tech allerdings längst hinaus. Er würde "diesen Scheiß" (also: Social Media) nicht mehr benutzen und habe ihn vor allen Dingen auch seinen Kindern verboten, sagte Chamath Palihapitiya, der von 2005 bis 2011 bei Facebook das Nutzerwachstum leitete, Anfang Dezember in einem Interview. Die "hektischen, dopamingetriebenen Feedback-Loops", auf denen Facebook gebaut sei, zerstörten die Grundlagen der Gesellschaft. 

Solche Pauschalaussagen haben zwar die Schwäche, dass sie die Reizmechanismen selbst bedienen, die sie so heftig kritisieren. Im Rahmen ihrer Analyse sind sie allerdings folgerichtig: Wenn man zu dem Schluss gekommen ist, dass in der digitalen Aufmerksamkeitskökonomie nur noch Übertreibung und Provokation zu einer starken Wirkmacht führen, dann muss man diese Mittel eben auch selbst einsetzten.

Begegnungen im echten Leben

Vor wenigen Tagen erfuhren die Thesen von Twenge, Palihapitiya und anderen Social-Media-Apokalyptikern eine zumindest indirekte Bestätigung. Mark Zuckerberg kündigte an, Facebook 2018 grundsätzlich umbauen zu wollen. Er habe seine Teams angewiesen, den Nutzern nicht mehr nur relevante Inhalte vorzusetzen, sondern ihnen vor allem "bedeutsame soziale Interaktionen" zu bescheren. Das Ziel der Operation: "[m]aking sure that time on facebook is time well spent"; die Zeit, die die Leute auf Facebook verbringen, sie soll eine gute, eine sinnvoll verbrachte sein.

Auf exakt welche Merkmale die Ingenieure achten, wenn sie an den Algorithmen drehen, bleibt natürlich Zuckerbergs Geheimnis. Seine Aussagen enthalten auch wenig substanziell Neues, denn das Unternehmen versucht schon länger, persönlichere Inhalte zurück in den Mittelpunkt zu schieben und Facebook als einen Ort zu inszenieren, von dem aus sich Begegnungen im echten Leben organisieren lassen. Die Werbekampagne "Mache Facebook zu deinem Facebook" thematisiert seit mehr als einem Jahr einen gewissen Verdruss am Netzwerk (zu viele Posts von Leuten, die man gar nicht kennt; das Unbehagen, sich diesen Leuten im Gegenzug zu zeigen; zu viele unpersönliche Clickbait-Posts und so weiter) und fordert die Nutzer explizit dazu auf, die Möglichkeiten zur Personalisierung zu nutzen.

Die Wortwahl in Zuckerbergs jüngstem Statement ist dennoch bemerkenswert. Sein Posting ist ein Lehrstück in Unternehmenskommunikation: Die Kritik wird absorbiert und in die eigene Außendarstellung einspeist. Time well spent, das von Zuckerberg ausgelobte Motto, ist auch der Name einer Initiative des ehemaligen Google-Ingenieurs Tristan Harris, die sich zum Ziel gesetzt hat, die "digitale Aufmerksamkeitskrise" zu revidieren und Technologie "wieder an den allgemeinen Interessen der Menschheit auszurichten". Und Zuckerberg gibt sich alle Mühe zu widerlegen, dass soziale Medien ihre Nutzer per se unglücklich machen. Wer Facebook benutzt, um mit Menschen in Verbindung zu sein, die ihm etwas bedeuten, der könne damit durchaus sein Wohlbefinden steigern, zitiert er aus nicht weiter ausgewiesenen Forschungen. 

Auch gut für Facebook selbst

Harris' und Twenges Kritik an sozialen Medien und insbesondere an Facebook ist allerdings so fundamental, dass minimale Veränderungen am Algorithmus das Problem nicht lösen werden. Das Problem ist das Geschäftsmodell selbst. Eine werbefinanzierte Plattform, die ihr Geld damit verdient, ihre Nutzer möglichst lange bei sich zu behalten, um ihnen möglichst genau personalisierte Werbung zuzuspielen, kann gar nicht anders, als die Bildschirmzeit zu maximieren.

Doch genau an diesem Punkt scheint Zuckerberg jetzt umzudenken oder zumindest seine Rhetorik zu ändern. Er erwarte von den anstehenden Veränderungen, dass die Leute weniger Zeit auf Facebook verbringen, dafür aber eine bessere. Das sei nicht nur gut für die Gemeinschaft, sondern langfristig gesehen auch für Facebook selbst. Wahrscheinlich hat er damit sogar recht, denn es kann gut sein, dass Werbung gar kein Geschäftsmodell der Zukunft mehr ist. Aus Sicht der Werbenden hat sie den großen Nachteil, dass sie den potenziellen Käuferinnen noch immer die Wahl lässt, sich für ein Produkt zu entscheiden oder nicht. Viel effizienter ist es, Bedürfnisse direkt in dem Moment zu erfüllen, in dem sie entstehen oder erzeugt werden. Es gibt sicher Mittel und Wege, das zu tun, ohne die Leute auf einen Bildschirm starren zu lassen.