Berlin:Kraft gegen Wahrheit

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Deutschlands größte jüdische Gemeinde feierte vor dem Brandenburger Tor das Lichterfest Chanukka am 6. Dezember. (Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Wie in den meisten Familien gibt es zwei Gruppen mit unterschiedlichen Meinungen: Die jüdische Gemeinde Berlins ist tief zerstritten.

Von Matthias Drobinski, München

Der einzige unstrittige Satz in dieser Geschichte lautet: Am Sonntag, dem 20. Dezember, wählt die Jüdische Gemeinde zu Berlin ihr Parlament, die Repräsentantenversammlung. Die Geschichte aber, wie dieser Termin zustande kam, erzählt viel über die Zustände in der größten jüdischen Gemeinde in Deutschland, die mehr als 10 000 Menschen vereint - oder muss man sagen: entzweit?

Die Opposition wollte den Wahltermin kurz vor Weihnachten verschieben - der nütze dem Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe, argwöhnte sie. Dessen meist ältere Anhänger seien in dieser Zeit daheim, die Jüngeren dagegen oft verreist. Die Chancen dafür waren gut: Joffes Bündnis "Koach" (Kraft) war nach dem Tod eines Repräsentanten in der Minderheit. Am 30. November sollte darüber entschieden werden. Um 18:36 Uhr brummen die Handys der 21 Repräsentanten: Die Sitzung ist abgesagt. Die elf Oppositions-Abgeordneten jedoch waren schon im Gemeindehaus an der Fasanenstraße und fingen einfach an, gegen den Protest des Sicherheitsdienstes. Der Termin wurde auf Januar verschoben, der Wahlleiter gleich mit abgesetzt. Die Oppositionsgruppe "Emet" (Wahrheit) um den 40-jährigen Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, Sergey Lagodinsky, aber freute sich zu früh: Der Vorstand erklärte die Sitzung für ungültig, der Schiedsausschuss gab ihm Recht.

Die Opposition wirft dem Vorsitzenden "putineske" Amtsführung vor

Vor vier Jahren feierte das Bündnis des heute 43-jährigen Unternehmensberaters Gideon Joffe einen großen Sieg, der ihm eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Repräsentantenversammlung brachte. Seine Vorgängerin Lala Süßkind hatte der Gemeinde hartes Sparen verordnet, um die Finanzkrise zu beenden, in der sie steckte. Joffe machte sein Versprechen wahr, diesen Sparkurs zu stoppen; er forderte statt dessen mehr Geld vom Berliner Senat. Der Streit endete vor dem Verwaltungsgericht. Das legte fest, dass der Senat den Zuschuss für 2013 um fast 700 000 Euro und 2014 um fast 900 000 Euro erhöhen muss. Mit diesem Erfolg wirbt Joffe für sich: Die Finanzkrise ist überwunden, auch durch eine effizientere Verwaltung, die Löhne der Angestellten konnten erhöht, ein neues Familienzentrum eingeweiht werden.

Allerdings weist man in der Berliner Senatskanzlei darauf hin, dass es noch ein Berufungsverfahren gibt - und dass der Gemeinde dieses Jahr 864 000 an Pensionszuschüssen entgangen sind, weil sie die erforderlichen Anträge nicht eingereicht hat. Insgesamt hapert es bei den Gemeindefinanzen mit der Transparenz: "Wir wissen nicht, wie viel Risiko in der ganzen Finanzkonstruktion steckt", sagt Oppositions-Chef Ladoginsky. Ziemlich viel, fürchtet ein Kenner der Gemeinde.

Umstritten ist auch die Amtsführung Joffes. Sie sei selbstherrlich und trage putineske Züge, klagt die Opposition: Wer nicht auf Linie sei, werde abgesägt. Zuletzt habe es den Antisemitismus-Beauftragten Daniel Alter getroffen. Die Entlassung sei reiner Sparzwang, kontert Joffe. Anfang 2014 hatten die Joffe-Gegner schon einmal genügend Stimmen für einen Abwahlantrag zusammen; Parlamentspräsident Michael Rosenzweig erkannte aber einfach die meisten Unterschriften nicht an, der Antrag scheiterte. Aus Joffes Sicht betreibt Ladoginsky Destruktion, statt ordentlich mit ihm zusammenzuarbeiten. Die Wahrheiten stehen nebeneinander wie in einer tief zerstrittenen Familie. Und die Gemeinde ist ja tatsächlich fast wie eine Familie: Man kennt sich, manchmal zu gut, mit allen Geschichten, Konflikten, Traumatisierungen.

Nun also die Wahl. Geschichten kursieren: von einer Chanukka-Feier für ältere Gemeindemitglieder, bei der Joffe auftrat - und nebenan die Wahlkabinen standen. Gerade unter den Älteren aus der ehemaligen Sowjetunion, auf die mancher Alteingesessene herabblickt, hat Joffe viele Anhänger. Er, dessen Vorfahren aus Lettland stammen, trifft hier den Ton. Ladoginskys Bündnis dagegen dürfte Alteingesessene und Reformer versammeln, "und vielleicht die Hälfte der Jüngeren", wie er sagt. Insgesamt hat Joffe gute Chancen, im Amt zu bleiben. Der Streit wird so oder so weitergehen.

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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