"Wer mich beleidigt, bestimme ich", sagte mein Vater früher zuweilen, und ich staunte schon als Kind über das Maximalmaß an Selbstbestimmtheit, das damit zum Ausdruck kam. Man durfte sich offenbar die Freiheit nehmen, einen Provokateur derart tief unter der eigenen Würde zu verorten, dass seine Unverschämtheit jegliches Gewicht verlor. Man musste es nur wollen.

Konsultiert man das Internet, wird dieses Zitat überraschenderweise nicht meinem Vater, sondern Klaus Kinski zugeschrieben. Das zerstört zwar mit 30 Jahren Verspätung eine jugendliche Illusion, nicht aber die realexistierende Lebensweisheit, die dem Satz innewohnt. Sie bringt eine souveräne Gelassenheit auf den Punkt, die uns heute, in einer Epoche, die man rückblickend vielleicht mal als Neue Empfindlichkeit bezeichnen wird, vollkommen abhanden zu kommen droht.

Was wir momentan erleben, ist das Gegenteil lockerer oder sogar humorvoller Contenance in notwendigen Diskursen. Stattdessen kultiviert unsere Gesellschaft ein individuelles Recht auf Beleidigtsein: Mit heiligem Eifer sucht man unentwegt nach Gründen, weshalb man sich mal wieder so richtig schön auf den Schlips oder Schmerzempfindlicheres getreten fühlen könnte.

Man kann jetzt natürlich ein weiteres Mal die Debatte um Jan Böhmermann, den ZDF-Zuschauer Recep Erdoğan und die TV-Kritikerin Angela Merkel erwähnen. Aber nicht, um erneut zu betonen, dass die Kernkompetenzen der Kunstform Satire im Verspotten, Anprangern und Entlarven liegen und dass Satire deshalb das Vorrecht genießt und die Pflicht hat, auf radikale Weise mit Tabus und Schmerzgrenzen zu experimentieren. Sondern weil das Verhalten des türkischen Präsidenten ein erhellendes Exempel für eine Einstellung ist, die auch hierzulande mehr und mehr zum Normalfall wird.

Auf Inhalte, die polemisch, ironisch, zugespitzt, pointiert, spöttisch, schwarzhumorig oder provokant sind, die dem Zeitgeist entschieden widersprechen, den Mainstream konterkarieren oder einer vordergründigen Moral bewusst nicht gehorchen wollen, gibt es immer häufiger eine einzige reflexhafte Reaktion: heftigste Empörung, drastische Diskriminierungsvorwürfe und pauschale Anschuldigungen.

"Na und?", könnte man sagen – dann sollen diejenigen, die sich permanent angegriffen fühlen, doch einfach dauerbeleidigt sein. Betrifft ja nur sie selbst. Aber das stimmt leider nicht. Denn wer schmollt, zieht sich zurück, will nicht mehr zuhören, boykottiert bewusst jeden Dialog und verhindert so letztlich die Chance auf eine konstruktive Debatte und die Annäherung über Argumente.

Die Tendenz zu inflationärem Beleidigtsein ist Gift für unsere Diskurskultur. Eine Gesellschaft, die es nicht schafft, in schwierigen Streitfragen miteinander im Gespräch zu bleiben, und die stattdessen mit Anschuldigungen um sich wirft, verhärtet sukzessive ihre ideologischen Fronten und erzeugt ein Klima der Feindseligkeit, das Kompromisse irgendwann unmöglich macht. Wie sich eine derart unversöhnliche Lagerbildung dann anfühlt, lässt sich gerade am Beispiel der Flüchtlingskrise beobachten.

Bizarre Beschwerden

Das zentrale Problem der Beleidigten sämtlicher Fraktionen ist längst, dass immer weniger faktische Kränkung ausreicht, um immer mehr empfundene Kränkung auszulösen. Mitunter werden sogar Beschwerden geäußert, die derart bizarr sind, dass man sie im ersten Moment für eine Satiremeldung des Postillon hält. Und im zweiten Moment auch.

Ein jüngeres, eher weniger bekanntes Beispiel aus dem Zirkus Zeter & Mordio: Spots, die die Werbeagentur Jung von Matt für den Fremdsprachendienst Arenalingua realisiert hat. Untertitel behindern in den Filmen Englisch sprechende Protagonisten so, als wären diese Untertitel reale Objekte im Raum – Bankräuber stolpern auf der Flucht über die kastenförmigen Einblendungen, eine Frau massakriert mit der spitzen Ecke eines Schriftblocks ihren Verlobten. Die Botschaft: Wer Sprachen beherrscht, kann auf störende Untertitel verzichten. "Subtitles destroy movies. Learn english."

Endlich mal originelle Werbung, die nicht nervt oder langweilt, werden viele gedacht haben. Aber das sahen der Aktivist Raul Krauthausen und die Bloggerin Julia Probst anders.