15. Juni 2015

Demenz salonfähig machen

Von nst1

Offener Brief an Helga Rohra, „Demenzaktivistin“

Sehr geehrte Frau Rohra,

es ist kein Thema, das man gern an sich heranlässt: Demenzerkrankungen. Mit der Frage, wie ich selbst wohl auf eine Diagnose reagieren würde, hatte ich mich bisher nicht beschäftigt. Vielleicht hat es mich deshalb so beeindruckt, von Ihnen zu lesen! Nach ersten Symptomen 2008 und vielen Untersuchungen stand für Sie 2009 (mit 55 Jahren) fest: Lewy-Body-Demenz. Unter etwa 100 Demenzformen ist bei dieser dritthäufigsten die Halluzination am stärksten ausgeprägt.

Obwohl das für Sie war, „als ob man in einen dunklen Tunnel rutscht“, haben Sie sich nicht geschlagen gegeben! Sie haben die Krankheit akzeptiert – und sind losgezogen: Bei Vorträgen, Kongressen, in einem Buch, den Medien schildern Sie immer wieder Ihren „täglichen Kampf gegen das Vergessen“. Sie machen Betroffenen Mut, dass „ein Leben auch mit Demenz spannend und lebenswert sein kann“. Gleichzeitig machen Sie deutlich, dass es eine Familiendiagnose ist, und jeder in der Familie lernen muss, damit umzugehen – und darüber zu sprechen!

Schon allein das verdient größten Respekt! Aber Sie wollen das Thema keinesfalls im Privatbereich lassen. Ganz bewusst machen Sie Lobbyarbeit: als Patientenvertreterin in der Alzheimer Gesellschaft, als Beraterin im Europaparlament und bei der EU-Kommission. Dabei machen Sie auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam. Frühdemenz etwa bedeute oft sozialen Rückzug und Abstieg, weil Demenzkranke nicht automatisch Frührente bekommen, sondern von Hartz IV leben müssen. Auch dass Demenzkranke noch viele Potenziale haben, geht Ihnen in der gesellschaftlichen Diskussion viel zu häufig unter. Sie beklagen, dass die Industrie gutes Geld mit Produkten für Demenzkranke mache, sie bei der Planung und Entwicklung jedoch nicht einbeziehe. Sie scheuen auch nicht davor zurück, das fehlende Wissen um die Krankheit bei Ärzten und Ämtern anzumahnen. Außerdem fordern Sie einheitliche Krankenausweise und mehr Akzeptanz in der Gesellschaft: Sie wollen Demenz „salonfähig“ machen.

Bei all dem versteht man, warum auf Ihrer Visitenkarte „Demenzaktivistin“ steht. Und für diesen Einsatz müssen Ihnen nicht nur die etwa 1,5 Millionen Demenzkranken allein in Deutschland dankbar sein!

Unweigerlich stellt man sich die Frage: „Wie macht sie das bloß?“ Sie selbst sehen es als eine ganz persönliche „Mission“ und ziehen die Kraft dafür aus Ihrem Glauben. Aber Sie wissen auch, dass Ihnen der Einsatz Halt gibt und durch den Krankheitsverlauf ganz schnell zu Ende sein kann. Trotzdem träumen Sie noch von Begegnungszentren, die von Demenzkranken betrieben werden und in denen sie ihre Potenziale zur Wirkung bringen können. Einen Verein dafür haben Sie bereits gegründet und suchen Kooperations- und Finanzierungspartner.

Von Herzen wünschen wir Ihnen dafür viel Erfolg! Und dass sich erfüllt, was Sie selbst sich wünschen: dass Sie dann, wenn Sie „sich selbst vergessen“, nicht daran verzweifeln, dass Sie Ihre Arbeit nicht fortsetzen können.

Ihre

Gabi Ballweg
Redaktion Neue Stadt

Unser offener Brief wendet sich an
Helga Rohra (62) aus München. Die ausgebildete Dolmetscherin beherrschte sieben Sprachen und übersetzte auf Kongressen. 2009 wurde ihr eine Demenz diagnostiziert. Seitdem ist sie als „Demenzaktivistin“ unterwegs: Sie will aufklären, Mut machen, um einen Platz in der Gesellschaft kämpfen: als Vorsitzende der EU-Arbeitsgruppe „Menschen mit Demenz“ (EWGPWD) und Mitglied im Vorstand von Alzheimer Europa (AE) und der Internationalen Allianz der Menschen mit Demenz (DAI). Für ihren Einsatz bekam sie 2014 den Deutschen Engagementpreis. 
www.helgarohra.com

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2015)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München