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Literatur

Wenn Messer sich im Wasser krümmen

Bei Dao ist der wichtigste chinesische Lyriker der Gegenwart. Er lebte im Exil in Deutschland und Amerika. Heute darf er in Hongkong unterrichten. Nach China einreisen aber darf er nicht

Ein wenig vermisse ich das alte West-Berlin." Hinter der breiten Fensterfront leuchten im Nieselregen des späten Nachmittagslichts die ersten Neonblöcke auf der Nathan Road auf - gigantische, an die himmelhohen Fassaden geschraubte Tafeln in blutrot oder quittegelb, versehen mit zuckenden chinesischen Schriftzeichen. Darunter das Menschengewühl, die Doppeldeckerbusse aus britischer Vorzeit, die unzähligen Autos auf ihrem Weg von Kowloon hinüber nach Hongkong Island. Aber: West-Berlin, das provinzielle Subventionsbiotop, dessen lokalpatriotische Bewohner einem noch heute im Ton forscher Kleingärtner erzählen, dass sogar David Bowie mal in ihrer Nähe gewohnt habe?

"Ich weiß, am Kleistpark." Bei Dao lächelt einigermaßen wehmütig, und weil Chinas bedeutendster Lyriker auch im Alter von 60 Jahren mit seinem leicht ausgefransten schwarzen Ponyschnitt noch ein bisschen an einen späten Studenten erinnert, denken wir sogleich an die Zeilen eines der berührendsten deutschen Exilgedichte: "Ich bin der Weggehetzte. / Nicht der erste, nicht der letzte. // Mein Leib und meine sieben Sinne, / Alles frisch und unversehrt. / Das Leben, das ich nun beginne, / Lebt sich gerade umgekehrt. // Mir ist die Welt ins Herz gesprungen, / Mir, dem großen Lausejungen."

Der gebürtige Chemnitzer Bernd Jentzsch hatte diese Zeilen 1976 geschrieben, im sicheren Refugium von Bern, von dem aus er nicht mehr in die DDR zurückkehren durfte, nachdem er in einem persönlichen Brief an Erich Honecker gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Es ist die alte Geschichte, doch wem sie just passieret...

Bei Dao sagt: "Genau in diese Richtung geht es. Als im Juni 1989 in Peking die Panzer rollten, war ich gerade DAAD-Stipendiat in West-Berlin und verfolgte in der Güntzelstraße am Fernseher, was das Regime gerade mit den Studenten tat. Natürlich musste ich reagieren, umso mehr sich ja viele junge Leute auf meine Verse berufen hatten. Ich gab also dem ZDF ein Interview, und mein langes Exil begann. Bis zum heutigen Tag, hier als Literaturprofessor in Hongkong."

Aber weshalb dann Sehnsucht nach West-Berlin? "Auch wenn es schockierend klingt: Weil es damals einfacher war. Weil das Militär auf dem Platz des Himmlischen Friedens und die Mauer am Potsdamer Platz jeden Tag aufs Neue eine strenge Reflexion über den Wert und die Gefährdung der Freiheit provozierten, dazu Gedanken über unseren inneren Ort auf dieser Welt. Während heute..."

Bei Dao macht eine vage ausgreifende Handbewegung, welche die offensichtlich festlandchinesischen Café-Besucher (Neureiche mit Armani-und Versace-Tüten samt rüdesten Manieren) ebenso anzutippen scheint wie uns beide hier an diesem kleinen Ecktisch. Doch keine hochfahrende Zivilisationskritik wird sichtbar in den Gesten und Worten, schon gar kein simples Zurückwünschen der Jahre, in denen man selbst noch jünger war, sondern tatsächlich dies: Ein Sondieren der eigenen Situation, für die Bei Dao - von Ende der Siebzigerjahre an Sprachrohr einer gleichzeitig aufbegehrenden und ideologiemüden Autorengeneration - in seinen Gedichten Worte von rätselhafter Schönheit gefunden hat: "Der Kompass hat Humor / Er verweist auf einen Gemütszustand / Du trinkst deine Suppe und trittst / aus der Szene dieses Lebens // Auf dem Formular von Himmel und / Stromleitung begehrt ein Baum, / so aufgebracht, zu fliegen / Wie lässt sich da noch etwas schreiben?"

Ist die seltsame Exil-Situation im nach wie vor doch überraschend freien Hongkong, das seit dem Jahr 1997 gleichwohl offiziell Teil der diktatorischen Volksrepublik ist, womöglich der Grund dafür, dass Bei Dao in letzter Zeit kaum noch Gedichte geschrieben hat und "Das Buch der Niederlage", das soeben auf deutsch in der kongenialen Übersetzung von Wolfgang Kubin bei Hanser erschienen ist, vor allem Arbeiten der vorangegangenen Jahre versammelt? "Wenn Messer sich im Wasser krümmen / überquerst du auf Flötentönen Brücke um Brücke / Was verborgen klagt, ist / die Rose der Zeit."

Der hochgewachsene, schmächtige Mann mit dem leicht verbeulten Jackett wirkt dennoch nicht wie ein Geschlagener. "Ich glaube, das ist normal. Nach 1989, nach dem Aufenthalt in West-Berlin und während der langen Jahre in den USA hatte ich einen Lyrikband nach dem anderen veröffentlicht, viele davon hat mein Freund Wolfgang Kubin ins Deutsche übertragen. Und jetzt? Meine Gedichte erscheinen inzwischen sogar wieder in China (Anmerkung: Bei Dao benutzt die Vokabel Mainland anstatt des von Peking offiziell verwendeten Motherland). Private Verleger bringen sie an der Zensur vorbei in zehntausenden Exemplaren auf den chaotischen Markt, dann zahlen sie dem Staat eine Strafe, zahlen mir selbst jedoch nichts und der Staat... Nun ja, nach kurzen, kontrollierten Aufenthalten zwischen 2001 und 2004 hat er entschieden, mich nicht mehr einreisen zu lassen. Sehen Sie dagegen die Leute um uns herum? Sie kommen nach Hongkong, um Geschäfte zu machen, und wahrscheinlich steigen sie danach gleich hier unten wieder in die Bahn, um nach lediglich vierzig Minuten Fahrt am Grenzübergang von Lo Wu in die Volksrepublik zu wechseln."

Müssen demnach selbst die Gedichte vor einer beunruhigenden Komplexität kapitulieren, die einerseits wildesten (Vor-)-Kapitalismus hervorgebracht und andererseits übelste Parteiherrschaft bewahrt hat - nur eine Dreiviertelstunde von diesem Ort, wo man in der überall ausliegenden South China Morning Post freie Informationen über die neuesten Pekinger Willkürurteile gegen Bürgerrechtler erhält und doch gleichzeitig ahnt, dass auch dieses Café längst parteinahen Geschäftsleuten gehört? In einem von Bei Daos Gedichten heißt es: "Man muss den Hintergrund ändern / Erst dann gibt es eine Heimkehr für dich."

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Der exilierte Dichter, dessen zweite Frau inzwischen ebenfalls in Hongkong unterrichtet (die erste Ehe zerbrach in den fragilen Jahren des amerikanischen Exils), wiegt schon ein wenig nachdenklich den Kopf. "Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich fühle mich zurzeit physisch nicht bedroht und bin auch nicht ausgebrannt. Nur dass es jetzt eher Essayistik und Prosa sind, die mir adäquat erscheinen zu meinen Erfahrungen. Ich schreibe gerade über meine Kindheit und dazu über die Jahre während der Kulturrevolution, als die Schulen geschlossen wurden und ich für elf Jahre dorthin musste, was man im ganzen kommunistischen Weltsystem 'die Produktion' nannte, in die Welt der Betonmischer und der Bauarbeiter."

Das Urvertrauen in die Sprache ist Bei Dao indessen geblieben, überraschend genug bei einem Dichter, dessen hermetische Lyrik ansonsten eher der ehrwürdigen, politik-abstinenten Gattung der "Menglong shi" zugeordnet wird, deren deutsche Übersetzung als "Nebeldichtung" freilich den Kern verfehlt. "Im Gegenteil", sagt Bei Dao. "Gerade in den Metaphern erkennen wir uns wieder. Als Organisator eines Lyrikfestivals hatte ich im vergangenen November den ostdeutschen Schriftsteller Kurt Drawert zu Gast, mit dem ich sogleich eine gemeinsame Sprache fand. Und auch hier in Hongkong wird keineswegs nur hirnlos konsumiert. Vergessen Sie nicht, wie viele Einwohner der Stadt einst aus Maos China hierher geflüchtet waren, über die Berge und das Meer, über die Flüsse... Menschen, die viel Schlimmeres erlitten hatten als ich."

Sagt's mit leiser Stimme, lächelt erneut und schickt der offensiven Standortbestimmung dann wie viele Chinesen noch eine letzte bestätigende Silbe hinterher: "Ja."

Bei Dao: Das Buch der Niederlage. A. d. Chin. von Wolfgang Kubin. Hanser, München. 106 S., 14,90 Euro.

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