Es lebe der Widerspruch!
 

Es lebe der Widerspruch!

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Diese Woche geht's bei Walter's Weekly u.a. um Einblicke in die Online-Schizophrenie und darum, dass Twitter keinen Traffic bringt

Einblicke in die Online-Schizophrenie

Dieser Tage warnte Vint Cerf, einer der Väter des Internets und zurzeit Oberprediger bei Google, Software-Updating mache alte Dateien unleserlich. Im 22. Jahrhundert, meinte Cerf, werden unsere Nachkommen Schwierigkeiten haben, uns zu verstehen, da dann kaum noch Aufzeichnungen existieren. Er will uns deshalb ermutigen, Fotos auszudrucken und Daten als Memory Files zu speichern.

Das oft beschworene ‚papierlose Zeitalter’ droht also von einer Bequemlichkeit zu einem Fluch zu werden. Wenn zunehmend Urkunden und Dokumente (die z.B. Besitzstände definieren) digital archiviert werden, ist juristisches Chaos zu erwarten, sobald die Daten unleserlich werden.

Überhaupt scheint die Digitalwelt widersinniges Verhalten zu fördern. Online-Medien blasen völlig Unbedeutendes zur Weltsensation auf: Da erhält eine abfällige Bemerkung eines betrunkenen Fußballfans, die im Normalleben bestenfalls ein paar Umstehende ignorieren würden, plötzlich ein erregtes Millionenpublikum. Andererseits breiten viele freiwillig ihr ganzes Leben vor der Welt aus. Wenn Welt dann die Nase rümpft, soll alles Ungewollte mit einem Bannfluch belegt werden („Recht auf Vergessen“). Speichern und Vergessen – beides gleichzeitig?

Es wird eindeutig zu viel Müll abgeladen: Unbedachte Tweets und Spontanfotos haben Karrieren und Ehen zerstört. Ein Anwalt sagte kürzlich, dass in einem Drittel(!) der Scheidungsfälle Facebook zitiert wird.

Apropos Facebook. Die haben eben eine neue Anwendung eingeführt, die nach einem allfälligen Ableben den Account völlig und endgültig löscht. Andere wieder träumen davon, dass ihr digitaler Doppelgänger weiterleben könnte.

Warum sind wir heutzutage so scharf darauf, Flüchtiges festzuhalten? Ist es ein Versuch, sich Profil zu verleihen in einer Zeit, in der Identitäten zunehmend flüssig geworden sind? Oder Ausdruck des tief sitzenden gesellschaftlichen Widerspruchs, der Individualismus betont, während jeder dringend nach Anerkennung sucht?

Feministinnen jammern, die ‚Gesellschaft’ würde Frauen nach ihrem Aussehen beurteilen. Jedoch werden jede Woche 17 Millionen Selfies (nicht lächeln! Mädchen Schmollmünder aufwerfen!) ins Netzwerk der Sozialen Medien hochgeladen. Und was ist der bevorzugte Abladeplatz? Eine Website mit dem bezeichnenden Namen Hot or Not. Jeder beurteilt jeden.

Wenn wir individuelle Eigenheiten überbetonen, fällt das Zusammenleben schwerer. Was Einsamkeit nach sich zieht. Ergo der Wunsch nach Eskapismus. Je mehr Zeit wir allerdings im ort- und zeitlosen Cyberspace verbringen, um so ephemerer wird unsere Existenz. Selfies und Endlos-Texting wäre dann eine Art der Selbstvergewisserung. Banales wird millionenfach weitergereicht, während wertvolle menschliche Begegnungen gemieden werden.

Käme also nicht ganz unerwartet, wenn Schizophrenie demnächst den Narzissmus als Zeitgeistkrankheit ablöst...

Quellen:

http://www.theguardian.com/technology/2015/feb/16/digital-black-hole-delete-memories-information-lost-google-vint-cerf

http://www.theatlantic.com/technology/archive/2015/02/google-forgotten-century-digital-files-bit-rot/385500/

http://www.bbc.co.uk/news/technology-31438707

http://newsroom.fb.com/news/2015/02/adding-a-legacy-contact/

http://theconversation.com/our-digital-lives-mean-memories-and-life-online-can-continue-even-after-death-37553

http://www.theatlantic.com/health/archive/2015/02/the-good-and-the-bad-of-escaping-to-virtual-reality/385134/

Wie wichtig ist eigentlich die Privatsphäre?

Lebenswichtig! Sagt, reichlich überraschend, Apple-Chef Tim Cook. Und das pikanterweise in dem Moment als US-Präsident Obama ins Silicon Valley gepilgert war, um die Tech-Elite zu beschwören, den Behörden mehr Daten zur Verfügung zu stellen. Dieses Thema wird noch an Dringlichkeit gewinnen, wenn wir das Internet der Dinge in unsere Haushalte vordringen lassen. Es braucht nicht unbedingt Mikrofone und Kameras, um aus der Ferne abgehört zu werden. Rechenverfahren können aus ganz harmlosen Verhaltensdaten komplexe Profile erstellen: Ein Temperaturregler verrät etwa, wann die Haushaltsbewohner schlafen gehen. Ein digitales Strommessgerät verrät indirekt, ob jemand in der Nacht regelmäßig aufsteht (also an Schlaflosigkeit leidet). Übermäßiger Energieverbrauch könnte ein Hinweis auf eine illegale Cannabisfarm sein.

Der größte Verbündete der eindringlichen Datenjäger ist unsere Gleichgültigkeit. Sowie der klebrige Irrtum, im Internet müsse alles ‚gratis’ sein – wenn in Wirklichkeit viele Dienstleistungen mit dem stillschweigenden Austausch für private Verhaltensdaten erkauft werden. Diese Daten haben aber nur Wert, wenn sie regelmäßig geerntet werden. Weshalb das Gegengeschäft Transparenz verlangt. Privatsphäre ist störend. Ganz besonders, wenn die letzte Bastion fallen soll, wenn versucht wird zu erheben, was wir wirklich denken und fühlen.

Quellen:

http://qz.com/344661/apple-ceo-tim-cook-says-privacy-is-a-matter-of-life-and-death/

http://theconversation.com/privacy-is-fast-becoming-the-real-disruptive-force-in-digital-technology-37244

Enthüllung der Woche: Twitter bringt keinen Traffic

Ein Redakteur überprüfte, wie viele seiner Tweets nicht bloß weitergereicht worden waren, sondern tatsächlich zum Durchklicken bis zum Artikel (auf der Homepage) geführt haben. Sein begehrtester Artikel führte zu einer Besuchsrate von mageren 1,7 Prozent. Ja, Links werden en masse ausgetauscht – wirklich gelesen wird aber herzlich wenig. Mit anderen Worten: Die Leute reichen weiter, was sie selber gar nicht in Augenschein genommen haben. Alles nur Schall und Rauch. Twitter führt bloß dazu, mehr Gezwitscher zu lesen – Traffic zu Websites ist nicht zu erwarten.

Quelle:

http://www.theatlantic.com/business/archive/2015/02/the-unbearable-lightness-of-tweeting/385484/

Update: Liebe auf Knopfdruck

Im Zeitalter der Sofortbefriedigung haben Dating-Apps eingeschlagen wie ein Herpes-Virus. Laut Tinder loggen sich User im Schnitt 11 Mal am Tag ein. Keine verliebten Abendessen, kein Tanzengehen – einfach auf die Plätze, fertig, Rammel. Alles muss schnell gehen und am besten auf Knopfdruck. Nun dachte ein besonders cleverer junger Mann, sogar das Aussortieren von Datingangeboten sei zu viel Arbeit: Warum nicht Software ranlassen?

Seine „Tinderbox“ geht so vor: Auf der ersten Stufe sortiert das Programm Gesichter in „akzeptable“ und „nicht akzeptable“ vor. Dann werden die Ausgewählten mit einer vorgefertigen Botschaft gefüttert. Erst wenn sie drei Mal geantwortet haben, bequemt sich Mister Tinderbox mit einer echten Antwort.

Die Digitalwelt reduziert nicht nur den anderen auf den Status eines Dinges – manche wollen sich offenbar selbst verdinglichen. Nicht weiter überraschend, dass bereits Pornografie im Virtual Reality-Format im Anmarsch ist...

Quellen:

http://www.theatlantic.com/technology/archive/2015/02/the-tinder-bot-that-knows-when-to-swipe-right/385446/

http://www.wired.com/2015/02/vr-porn/

http://www.dailymail.co.uk/sciencetech/article-2957606/Online-dating-revealed-Two-thirds-world-s-mobile-dating-app-users-MEN-fifth-pay-premium-service.html

[Walter Braun]



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