Rückkehr unerwünscht

Darf man das?, fragten sich an der Jahreswende 1997/98 die europäischen Filmkritiker, Intellektuellen und Publizisten zwischen Palermo und Helsinki, als Roberto Benigni in seinem Film «La vita è bella» das Grauen eines Konzentrationslagers als Komödie inszenierte. Und

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Der Autor im Gespräch über sein neues Buch. (Bild: Nitsch)

Der Autor im Gespräch über sein neues Buch. (Bild: Nitsch)

Roman Bucheli ⋅ Darf man das?, fragten sich an der Jahreswende 1997/98 die europäischen Filmkritiker, Intellektuellen und Publizisten zwischen Palermo und Helsinki, als Roberto Benigni in seinem Film «La vita è bella» das Grauen eines Konzentrationslagers als Komödie inszenierte. Und von links bis rechts war man sich so uneinig, wie es die Ernsthaftigkeit des burlesken Films erforderte. Und abermals könnte man sich nun die Frage stellen, da der Schriftsteller Charles Lewinsky in seinem Roman «Gerron» das Leben des Schauspielers, Sängers und Regisseurs Kurt Gerron nachzeichnet, der Ende Oktober 1944 in Auschwitz ermordet worden war. Grosse Teile des Romans erzählen aus dem Alltag im KZ Theresienstadt, wohin Gerron im Februar 1944 deportiert worden war. Einiges von Lewinskys Darstellung ist dokumentarisch gesichert, vieles indes hat er, wie er in einer Nachschrift sagt, erfunden.

Das KZ als Roman-Fiktion. Darf man das? Oder müsste die Frage hier nicht vielmehr lauten: Will man so etwas lesen, da man doch die Bücher von Imre Kertesz und Primo Levi hat, die aus ihrer eigenen Anschauung und Erinnerung literarische Texte geformt haben? Grenzt es vielleicht gar ans Obszöne, das Leben im KZ im Stile und mit den Mitteln eines Kolportageromans darzustellen (so wie Lewinsky 2006 in «Melnitz» eine Geschichte des Schweizer Judentums zwischen 1871 und 1945 als Familienroman entworfen hat)?

Moralisch-ästhetisches Dilemma

Lewinsky hütet sich wohlweislich, die Frage explizit als moralisch-ästhetisches Dilemma zu thematisieren. Hingegen kann sein Roman durchaus als Problematisierung und Antwort in einem begriffen werden. Denn seine romanhafte Erfindung eines KZ-Alltags handelt von nichts anderem als dem fortgesetzten Versuch, sich das Leben und die eigene Person auch unter den furchtbarsten Umständen immer neu und mit den gegebenen Mitteln als ein geordnetes Dasein zu erfinden (oder wenigstens vorzuspielen). Lewinskys Fiktion eines Lebens im KZ schildert denn eine durch nichts zu erschütternde (und darum umso erschütternde) Hoffnung und Anstrengung, die Fiktion der Normalität und Menschlichkeit selbst unter menschenverachtenden Bedingungen aufrechtzuerhalten.

Lewinsky schreckt nicht vor den innersten Zonen des Martyriums zurück. Der Gang hinter die Grenzen des ästhetischen Tabus leistet zunächst und vor allem eine Reflexion auf die Erzählbarkeit des Grauens. Denn dieses muss mit jeder anekdotisch erzählten Tätlichkeit zur Banalität verkümmern. Lewinsky findet einen Ausweg aus dem Darstellungstabu, indem er den Standpunkt des Erzählers in den Kopf seiner Hauptfigur verlegt. Gerron selber berichtet über seine Geschichte und sein Leben im KZ. Oder noch präziser: Lewinsky zeigt, was sich in Gerrons Kopfkino abspielt.

Damit werden die geschilderten Ereignisse mehrfach gebrochen, und jede vorgetäuschte und angemasste Unmittelbarkeit wird vermieden. Freilich erweist sich diese moralisch begründete Zurückhaltung gerade auch als die grösste erzählerische Schwäche des Romans. Denn mit der Unmittelbarkeit geht auch die Intensität des Geschehens verloren. Die Handlung spielt sich meistens im Verdeckten ab und wird lediglich rekapitulierend nacherzählt; darum entwickeln sich die Ereignisse fast ausschliesslich aus Gerrons Selbstgespräch. Aber Lewinsky ist als Autor zu gewieft, um dogmatisch an dieser Position festzuhalten: Gut dosiert durchbricht er bisweilen sein Erzählprinzip und dynamisiert so das Romangeschehen. Im Übrigen ist Lewinsky ein phänomenaler Porträtist, der mit wenigen Strichen Charakterköpfe zeichnet, die dem Roman ebenso ein besonderes Kolorit geben wie die Nebenschauplätze, etwa die Berliner Theaterszene der Zwischenkriegszeit, wo auch Brecht tüchtig sein Fett abbekommt.

Der Roman setzt an jenem Tag im August 1944 ein, da Gerron vom Kommandanten des KZ den teuflischen Befehl erhält, einen dokumentarischen Propagandafilm über Theresienstadt zu drehen. Drei Tage hat Gerron Zeit, sich die Entscheidung zu überlegen. Allein, er weiss: Auschwitz heisst die Destination und mit dem Vermerk «R. U.», «Rückkehr unerwünscht», gleichgültig, ob er zusagt oder sich weigert. Dreht er den Film, korrumpiert er sich, aber gewinnt vielleicht für sich und seine Frau und ein paar Mitwirkende einen Aufschub vor der finalen Deportation. Ein solcher Aufschub könnte indes entscheidend sein, denn von Osten und Westen, so wissen es selbst die KZ-Insassen, naht Rettung. Drei Tage lässt Lewinsky nun die Leser am inneren Ringen teilhaben; drei Tage gibt er Gerron Gelegenheit, auf sein Leben zurückzublicken.

Gerron erinnert sich an Kindheitsszenen und an frühe antisemitische Anfeindungen; er ruft die Bilder herauf vom Ersten Weltkrieg und von der Verwundung, die ihn vor weiteren Einsätzen an der Front befreite, aber fürs Leben zeichnete (es sind mitunter die stärksten Passagen des Buches); er schildert seine wachsende Passion für die Bühne (nachdem er ursprünglich Medizin studiert hatte) und den überwältigenden Erfolg als Moritatensänger bei der Uraufführung der «Dreigroschenoper» von Brecht und Weill von 1928; und er rekapituliert das Ende der Weimarer Republik, den Gang ins Exil, die Internierung in den Niederlanden und schliesslich die Deportation aus dem Durchgangslager Westerbork nach Theresienstadt. Bis Gerron schliesslich dem Lagerkommandanten mitteilt, er werde den Film drehen. (Den Film gab es tatsächlich; er wurde aus Gerrons Material geschnitten, vertont und unter dem Titel «Der Führer schenkt den Juden eine Stadt» bekannt.)

Die Welt als Verstellung und Wahn

In seiner wiedergefundenen Rolle als Regisseur blüht Gerron noch einmal auf: Im Spiel und in der komplex inszenierten Fiktion einer Lageridylle gewinnt er Lebenskraft zurück. Konsequent formt Lewinsky daraus ein Leitmotiv sowohl für den Roman wie für Gerrons Lebensgeschichte. Denn wahrer als alle Wirklichkeit war ihm stets das inszenierte Geschehen. «Nur Künstler sind gute Lügner», sagt er einmal. Lewinsky erfindet dazu als Schlüsselszene eine Kindheitsreminiszenz: Gerrons Schaukelpferd hatte eine schöne Schauseite und eine leicht beschädigte Seite. Peinlich war das Kind darauf bedacht, das Pferdchen seinem eingebildeten Publikum nur von der schönen Seite zu zeigen; wurde es hingegen in die Gegenrichtung gedreht, begann das Kind wie am Spiess zu schreien. Die Inszenierungslust wurde zu Gerrons Lebensschicksal: als Variétékünstler, als Regisseur von Unterhaltungsfilmen, als Gründer eines Kabaretts im KZ, schliesslich – aber welch groteske Zugabe – als Regisseur eines Films, der die KZ-Hölle in die Idylle verklären sollte.

In diesem Leitmotiv verschränken sich erzählerische Methode und Lebensspur: Nur in der Fiktion wird das Unfassbare fasslich, zur wahren Kenntlichkeit kommt es in der Erfindung. Das galt für Benignis Film, wo dem Kind ein Theater vorgespielt wurde, mit dem drastischer als im Klartext dem Kind eine Ahnung von der Gefahr vermittelt wurde. Es gilt für den KZ-Film, der Gerron ins Dilemma zwang und der heute doppelt entlarvt. Und es gilt für diesen Roman, mit dem Lewinsky dem Ermordeten eine Lebensgeschichte erfindet, die als inszenierte Biografie vielleicht wahrer ist als eine im dokumentarischen Sinn genaue Erzählung.