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Weg damit!

Trennung fällt schwer – auch die von unnötigen Büchern und nicht mehr getragenen Kleidern. Eine Aufräumexpertin erklärt, wie man Ballast loswird

Jeder und jede von uns besitzt durchschnittlich 15.000 Gegenstände. Von unserer Garderobe tragen wir in 80 Prozent der Zeit nur 20 Prozent aller Kleidungsstücke. Dass wir an so vielem eigentlich Überflüssigen hängen, hat mit dem emotionalen Wert zu tun, den die Dinge für uns haben. Aufräumcoach Birgit Medele, 41, hilft zu einem Stundensatz von 55 bis 85 Euro Klienten in Deutschland und Großbritannien im Kampf gegen vollgemüllte Wohnungen.

Welt am Sonntag:

Frau Medele, was ist Ihrer Definition nach Clutter, also das, was unser Leben verstopft?

Birgit Medele:

Clutter ist alles, was wir nicht benutzen und nicht wirklich mögen. Und im erweiterten Sinne: alles Unerledigte. Jede unbeantwortete E-Mail, jeder Knopf, der seit Wochen darauf wartet, angenäht zu werden, jede unbezahlte Rechnung. Wir neigen fast alle dazu, unsere Wohnungen zuzumüllen. Das kommt mit dem Leben.

Suchen im Frühjahr mehr Menschen Ihre Hilfe?

Der Frühling ist definitiv die Zeit fürs Aufräumen, ja. Wenn die Sonne durchs Fenster scheint, schauen sich viele um und denken: Huch, wie sieht es denn hier aus? Viele Menschen sind einfach sehr beschäftigt, es ist Weihnachten, man bekommt Geschenke, dann schon wieder Ostern und man kauft sich die passende Dekoration. Hier nimmt man ein Sonderangebot mit, und da stapelt sich die Post. Auf einmal sitzt man in seiner Wohnung und denkt: Als ich hier eingezogen bin, war die eigentlich ziemlich groß. Jetzt steht alles voller Zeug.

Wann ist es Zeit, auszumisten?

Wenn der Alltag nicht mehr so reibungslos vonstattengeht, wie man sich das wünscht. Es gibt Leute, die sammeln 85 Jahre lang Porzellanfiguren und sind glücklich damit. Das ist wunderbar und kein Fall für mich.

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Wenn Sie also zu Hilfe gerufen werden, wie gehen Sie vor?

Manche Leute befürchten, ich käme in ihre Wohnung und übernähme das Kommando über ihre Privatsachen. Nie im Leben. Meine Klienten zeigen mir ihre ganze Wohnung inklusive der problematischen Ecken. Und dann gehen wir gemeinsam Stück für Stück, Objekt für Objekt durch. Die Frage ist immer: behalten oder wegwerfen? Ich treffe dabei keine Entscheidung darüber, was ausgemustert werden soll. Das macht der Klient oder die Klientin. Ich schleppe dann oft einfach Bücher zum Auto oder stopfe Sachen in die Tüte für den Altkleidercontainer. Aber allein die Tatsache, dass ich da bin, verhindert, dass sich meine Klienten in alten Briefen oder ungelesenen Büchern verlieren. Oft bin ich aber auch nur dazu da, Händchen zu halten – im übertragenen Sinne. Ausmisten kostet immer emotionale Energie, denn es geht ums Loslassen. Das Ziel ist leben, anstatt zu kleben!

Und dazu brauche ich einen Coach?

Nicht wenn Sie von selbst die nötige Lust und Energie aufbringen. Für alle anderen Fälle bin ich da. In der deutschen Mentalität herrscht immer noch die Haltung vor: Aufräumen ist etwas, was man bitte schön selbst können muss. Aber ich sage: Putzen, womitdie wenigsten Leute Probleme haben, sich helfen zu lassen, ist viel einfacher als echtes Entrümpeln.

Vielleicht herrscht diese Scheu vor dem Entrümpeln genau deswegen vor, weil, wie Sie sagen, es unser Verhältnis zur Welt infrage stellt.

Die Dinge sind mit unserem Leben und unseren Beziehungen verschweißt. Deswegen kommt es vor, dass beim Aufräumen tiefe, schmerzhafte Gefühle hochkommen. Die Bücherkiste steht für das Bedauern über das abgebrochene Studium, das zu klein gewordene Kleid für eine zu Ende gegangene Beziehung. Manchmal erzählen mir Leute in meinen Kursen stolz: Letzte Woche habe ich endlich mein Testament gemacht. Es geht also sehr schnell weg vom reinen Aufräumen und dahin, Unerledigtes anzupacken. Insofern hat meine Arbeit mehr mit angewandter Psychologie zu tun als damit, ein Label auf einen Karton zu kleben. Hinzu kommt, dass nicht nur die Dinge, die uns umgeben, uns spiegeln, sondern auch die Personen. Wenn mein Partner oder meine Kinder etwas horten, kann ich mich auch erst einmal selbst fragen, an welcher Enttäuschung, an welchem Lebensplan, an welchem unverwirklichten Traum ich klebe. Die Lösung lautet dann eben, bei sich selbst anzufangen. Der Funke springt über.

Sie sagen: Unordnung ist eine Reaktion auf die Aufräumermahnungen unserer Eltern. Chaos symbolisiert Freiheit. Ist das so einfach?

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Das ist nur eines der Deutungsmuster, die ich anbiete. Jeder kann sagen: Das trifft auf mich zu oder nicht. Aber meine Überzeugung ist: Das Äußere spiegelt das Innere. Punkt. Die gute Nachricht dabei ist: Sobald man ein wenig mehr Ruhe und Struktur in sein unmittelbares Lebensumfeld wie die Wohnung oder das Büro bringt, überträgt sich das automatisch auf den Gemütszustand.

Trifft jeder einzelne Gegenstand, den ich besitze, eine Aussage darüber, wie ich mich durch die Welt bewege?

Ja. Und sei es auch nur, dass er Auskunft über den Grad Ihrer Lethargie gibt. Und wenn Sie einen Stapel Bücher weggeben, sagt das etwas über den Grad Ihrer Zuversicht aus, dass Sie diese Information bei Bedarf schon wieder besorgen können. Oder aber, dass Sie den Inhalt dieser Bücher längst verinnerlicht und verarbeitet haben und sie deshalb gar nicht mehr brauchen.

Aber ich brauche manche Bücher, um darin ein Zitat zu finden. Dafür kann ich nicht erst in die Bibliothek gehen.

Was aber, wenn dieses Zitat für Sie gar nicht mehr für sie zugänglich ist? Ich habe mal mit einer sehr erfolgreichen Architektin zusammengearbeitet. Ihr Büro war ein einziges Zettelchaos. Es war völlig illusorisch zu sagen: Auf dieses Dokument kann ich bei Bedarf schnell zugreifen. Denn dafür müsste alles bestens organisiert und abgeheftet sein. Ich habe das Festhalten an Zetteln lange auch nicht verstanden und immer gesagt: Steht doch alles im Internet. Aber Papier ist für viele eine Form, die Informationsfluten des Netzes in handliche weiße Rechtecke aufzuteilen und ihrer so Herr zu werden.

Haben Sie ein paar praktische Tipps?

Ich werde immer gefragt: Wie viele Telefonrechnungen sollte ich aufbewahren? Wie viele schwarze Rollkragenpullover sind normal? Würde ich da eine Zahl nennen, wird die jeweilige Person mich verantwortlich machen, wenn sie sich nach dem Wegwerfen nicht befreit fühlt. Ich habe aber keine Ahnung von ihrem Leben. Wenn jemand nicht liest, sind fünf Bücher zu viel. Liest jemand ohne Ende, sind 500 Bücher nicht genug. Jeder muss für sich herausfinden, was sich für ihn gut anfühlt und wie er dahin kommt. Wenn man dann merkt, dass man ein durchs Entrümpeln entstandenes Vakuum wieder auffüllt, liegt der Trost eben in diesen Dingen. Sie beschützen uns vor der bösen Welt da draußen oder im Inneren. Und das ist in Ordnung.

Sie sagen, eine Variante des Aufräumens ist Sterben.

Das klingt schnippisch, stimmt aber. Mache ich es nicht, müssen meine Nachkommen mit meinem Clutter zurechtkommen. Aber das ist keine echte Lösung, weil ich damit jede Möglichkeit aus der Hand gebe, zu entscheiden, was ich mit meinem Besitz anfangen will. Wer soll meine edlen Kleider erben? Was soll an eine Wohltätigkeitsorganisation?

Wie gehe ich also zu Lebzeiten meinen Kleiderschrank an?

Man braucht keine Regeln. Nur sein eigenes Gefühl. Und, das ist der größte Trick: nicht zu viel auf einmal vornehmen. Reißen Sie nicht alles aus dem Schrank mit dem Ziel, das an einem Nachmittag zu schaffen. Im Zweifel ziehen Sie jedes einzelne Stück an. Fühlen Sie sich gut darin: wunderbar. Wenn nicht: weg damit. Setzen Sie sich eine Deadline. Nehmen Sie sich zehn Minuten für ein spezielles Regalfach, stellen Sie sich meinetwegen eine Belohnung in Aussicht. Sonst warten Sie Wochenende für Wochenende auf den freien Tag, an dem Sie endlich mal das ganze Zimmer ausmisten. Und dieser Tag kommt dann ganz sicher nicht.

Vielleicht bin ich nur nicht in der richtigen Stimmung für dieses spezielle Kleidungsstück.

Dann warten Sie gern noch zehn Jahre auf die richtige Stimmung. Notfalls legen Sie eine Dilemma-Kiste an. Wenn Sie nach einer halben Stunde weinend nach Ihrem Pullover suchen, dann sollten Sie ihn wahrscheinlich behalten. Ich bin übrigens nicht dafür, Kisten unbesehen wegzuschmeißen, etwa vor einem Umzug. Dann kann es sein, dass sie mental für immer daran kleben bleiben. Geht man jede Kiste durch und schmeißt den Inhalt dann weg, kann man sicher sein, dass dort nichts Wichtiges drin war.

Was mache ich mit meinem vollgemüllten Schreibtisch?

Wie beim Aufräumen allgemein gilt auch hier: von innen nach außen arbeiten. Fangen Sie nicht an der Schreibtischoberfläche an, sondern mit dem Wegschmeißen des alten Zeugs in den Schubladen. Raus mit den Leichen. Andernfalls können Sie die wirklich wichtigen Papiere anschließend nirgends einsortieren. Je öfter ich ein Dokument oder Utensil brauche, desto schneller sollte ich darauf zugreifen können. Und benutzen Sie einen Kalender und tragen Sie dort alles ein, auch To-do-Listen, wichtige Gedanken, Telefonnummern.

Was ist mit Küchengeräten, die ich eigentlich nicht benutze?

Was die Leute immer erschreckt, ist der Gedanke daran, etwas teuer Gekauftes wegzuwerfen. Geben Sie die unbenutzte Brotbackmaschine also weiter. Solange Sie an dem ungeliebten Ding kleben, stehen Sie der Liebesbeziehung zwischen ihm und seinem neuen Besitzer entgegen. Wo ein Wille ist, öffnet sich ein Weg. Fragen Sie Freunde, geben Sie es Wohltätigkeitsorganisationen, verkaufen Sie es auf Ebay – wenn Sie die Energie und Lebenszeit investieren wollen. Wenn nicht, stellen Sie es auf die Straße.

Mit einem Kind muss ich aber nicht 400 Lego-Figuren durchgehen, oder?

Beim Aufräumen herrscht das Vertrauensprinzip, werfen Sie also bloß nichts einfach weg. Auch Vierjährige wissen genau, was sie behalten wollen und was nicht. Aber auch Kinder überfordert der herumliegende Clutter. Legen Sie eine Kiste für Autos an, eine für Puppen, eine für Lego. Dann wird es übersichtlich.

Sie sind auch unbedingt dafür, digitale Fotos auszusortieren. Dabei ist auf der Festplatte doch so viel Platz.

Man darf Fotos löschen und man darf auch Papierfotos wegwerfen. Die Erinnerungen bleiben, auch wenn Sie dreißig verwackelte Aufnahmen von der Familienfeier in den Papierkorb werfen. Die Personen, die darauf zu sehen sind, werfen Sie nicht mit weg. Kaufen Sie sich meinetwegen noch eine Festplatte. Aber wenn das Projekt „Fotoalbum anlegen“ wie eine dunkle Wolke über Ihnen schwebt, dann wissen Sie: Es ist Zeit für den Befreiungsschlag.

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