Ein kurzer Stich und das Gift ist im Körper. Es fühlt sich an, "als hätte man sich an einer Zigarette verbrannt, um dann einen Nagel durch die Wunde geschlagen zu bekommen", sagt die Neurobiologin Ashlee Rowe. Dann folgt ein Kribbeln, Taubheit schleicht heran, kurzzeitig bleibt gar die Luft weg. Zwar führt der Angriff nur in seltenen Fällen zum Tod, doch stundenlanger Schmerz ist den meisten Opfern gewiss. 

Ashlee Rowe hat die Giftmischung von Centruroides sculpturatus nie selbst zu spüren bekommen. Sie interessiert sich aber für eines der Opfer des Arizona-Borkenskorpions: die Grashüpfermaus. Die beiden Kontrahenten geben in den kargen Wüsten zwischen dem amerikanischen Bundesstaat Nevada und Mexiko ein bizarres Paar ab. Ihr alltäglicher Kampf könnte sich zum Glücksfall für die Schmerzforschung entwickeln.

Die putzige Grashüpfermaus ist nämlich keineswegs so hilflos, wie ihr Äußeres vermuten mag. Ihren Namen erhielt sie weniger aufgrund akrobatischen Könnens, als für ihren ungewöhnlichen Speiseplan. Der ist nämlich ziemlich fleischlastig. So verdaut Onychomys torridus neben Heuschrecken auch Insekten und Käfer. Wenn es sein muss, auch den eigenen Partner. Oder halt giftige Borkenskorpione. "Die Nager attackieren, töten und verspeisen die potenziell tödlichen Skorpione", sagt Rowe. Einfach so, ohne auch nur zu zucken. Werden die rund zehn Zentimeter langen Mäuse gestochen, "putzen sie sich bloß kurz an dieser Stelle". Dabei zählt der Eiweißcocktail der Borkenskorpione zum Giftigsten, was diese Art von Spinnentieren in Nordamerika zu bieten hat.

Schmerzverhalten - Grashüpfermaus frisst giftigen Skorpion ohne Schmerzen Die amerikanische Grashüpfermaus empfindet keinen Schmerz, wenn sie vom hochgiftigen Borkenskorpion gestochen wird. Das könnte eine Rolle spielen für die Entwicklung neuer Schmerzmittel.

Zusammen mit ihrem Team hat sich Ashlee Rowe von der Universität von Texas in Austin Skorpiongift und schmerzbefreite Maus genauer angeschaut. Ihre Ergebnisse haben die Forscher im Magazin Science veröffentlicht. Im Labor zeigte sich: Wo das toxische Gemisch des Skorpions normalerweise schmerzempfindliche Nervenfasern unter der Haut losfeuern lässt, zeigen die Neuronen der Grashüpfermaus kaum eine Regung.

Schmerz ist nicht nur schlecht

Der Nager springt auf die Mixtur fast so an, "als hätte man ihm Morphin gespritzt", sagt Gary Lewin vom Berliner Max-Delbrück-Zentrum für molekulare Medizin. Das Gift ist für sie eher ein Betäubungsmittel. "Evolutionstechnisch scheint dies zunächst wenig Sinn zu ergeben", sagt Lewin, der nicht an der Studie beteiligt gewesen ist. Denn Schmerz ist keineswegs nur schlecht. Wer nichts spürt, ignoriert mitunter lebensgefährliche Verletzungen.

Die meisten Lebewesen in der Wüste halten schon allein aus Angst vor dem Schmerz des Skorpion-Gifts gebührend Abstand. Es ist eine Mischung aus kleinen Eiweißketten, die die schmerzempfindlichen Rezeptoren an Nervenzellen reizen. In diesen Nozizeptoren liegen zahlreiche kleine Kanäle. Sie bestimmen, wann etwas schmerzt und wie stark, indem sie in kürzester Zeit elektrische Signale ans Hirn weiterleiten. Zwei Kanäle sind dabei entscheidend: die Natriumkanäle Nav1.7 und Nav1.8. Sie generieren den Elektroimpuls mithilfe von geladenen Natriumionen. Nav1.7 stößt das Schmerzsignal an, Nav1.8 sendet es ans Hirn. Das Skorpiongift heftet sich direkt an Nav1.7 und die Nervenzelle feuert – Zigarette und Nagel lassen grüßen.

Nicht so in den Neuronen der etwa zehn Zentimeter großen Grashüpfermaus. Statt an Nav1.7 docken die Skorpiontoxine direkt an die Nav1.8-Kanäle an. Auf der Oberfläche von Nav1.8 findet sich dafür eine spezielle Aminosäuresequenz. Das blockiert den Signalweg. Der Schmerz wird gar nicht erst losgeschickt. Und nicht nur das: "Das Gift macht die Nager kurzzeitig auch weniger empfindsam für andere Schmerzen", sagt Ashlee Rowe. Im Kampf mit dem Borkenskorpion vielleicht ein weiterer Vorteil, denn gegen dessen Schläge hilft die toxische Schmerzbefreiung nicht.

Dass Forscher das Rätsel um die Widerstandsfähigkeit der Maus lösen, könnte auch für den Menschen bedeutsam werden. Denn dessen Schmerzsignalwege ähneln denen der Grashüpfermaus, wenn man mal vom Giftschutz absieht.