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Christoph Schult

Brüssel und der NSA-Skandal Das Schweigen der Europäer

Der amerikanische Geheimdienst NSA hat gezielt EU-Einrichtungen abgehört. Und was tun die Chefs der Brüsseler Institutionen? Tauchen ab. Wäre Kommissionspräsident Barroso direkt vom Volk gewählt, könnte er sich nicht so leicht aus der Affäre ziehen.
EU-Ratspräsident van Rompuy, Kommissionspräsident Barroso: Die Verantwortlichen sind abgetaucht

EU-Ratspräsident van Rompuy, Kommissionspräsident Barroso: Die Verantwortlichen sind abgetaucht

Foto: JOHN THYS/ AFP

Vor zwei Wochen enthüllte der SPIEGEL die Spähattacken des amerikanischen Geheimdienstes NSA auf Institutionen in Europa. Zwei Vorgänge sind seitdem öffentlich: Erstens spionierte die NSA massenhaft deutsche und andere Internetnutzer aus. Zweitens hörten die Amerikaner EU-Vertretungen im Ausland und das Brüsseler Ratsgebäude ab.

Die Reaktionen auf diese Enthüllungen könnten unterschiedlicher nicht sein. In Deutschland läuft eine hitzige Debatte über die Frage, wie die Politik auf die Spionage durch die amerikanischen Freunde reagieren sollte. Die Bundesregierung muss sich herbe Kritik von der Opposition gefallen lassen, die Kanzlerin sah sich genötigt, Stellung zu beziehen, in der Koalition ist ein Streit zwischen Konservativen und Liberalen über die Frage entbrannt, welches Gut höher einzuschätzen sei: Sicherheit oder Schutz der Privatsphäre.

Und in Brüssel?

Da sind die wichtigsten Verantwortlichen abgetaucht. Weder der Chef der EU-Exekutive, Kommissionspräsident José Manuel Barroso, noch die für Außenbeziehungen zuständige Hohe Vertreterin Catherine Ashton oder Ratspräsident Herman Van Rompuy, beantworten die drängendsten Fragen. Das Trio hat sich damit begnügt, in den ersten Tagen ein paar vorgefertigte Sätze zu verlesen. Von "großer Besorgnis" sprach Barroso, Rompuy forderte "eine vollständige und dringende Aufklärung", und Catherine Ashton sagte vorsorglich, die EU werde "keinen weiteren Kommentar" abgeben, bis der Wahrheitsgehalt der Vorwürfe geklärt sei.

EU-Granden verkriechen sich in ihrem Elfenbeinturm

Seitdem herrscht Funkstille. Das Brüsseler Spitzenpersonal macht keinerlei Anstalten, die Öffentlichkeit über ihre inzwischen gesammelten Erkenntnisse auf dem Laufenden zu halten. Interview-Anfragen werden abgelehnt, bei der täglichen Mittags-Pressekonferenz produzieren Barrosos Sprecher die immer gleichen Sprechblasen, selbst Hintergrundgespräche werden verweigert. Eine Reaktion wie die des deutschen Regierungssprechers Steffen Seibert, man sei schließlich "nicht mehr im Kalten Krieg", würde Barrosos Sprechern nie über die Lippen kommen.

Es ist absurd: In seinen Sonntagsreden beklagt das europäische Spitzenpersonal gern das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit. Wenn sich aber wie derzeit die Gelegenheit bietet, die Sorgen von 500 Millionen EU-Bürger anzusprechen, verkriechen sich die EU-Granden in ihrem Elfenbeinturm.

In diesen Tagen lässt sich gut beobachten, wie unterschiedlich zwei politische Systeme auf einen Skandal reagieren. Natürlich lässt sich der intellektuelle Wert mancher Wortmeldungen in Deutschland nur schwer messen. Der Vorschlag des hessischen FDP-Chefs Jörg-Uwe Hahn, dem US-Präsidenten den Friedensnobelpreis abzuerkennen, gehört in diese Kategorie. Aber die öffentliche Auseinandersetzung bringt immer auch interessante Vorschläge hervor, wie zum Beispiel den von Peter Gauweiler (CSU), der anregte, Edward Snowden als Zeugen nach Deutschland zu holen - eine Forderung, die sich die Opposition sogleich zu eigen machte.

Wahlkampf zwingt Politiker, sich zu bekennen

Man kann das alles als Wahlkampfgetöse abtun. Man kann aber auch zu dem Schluss kommen, dass Wahlkampf Politiker dazu zwingt, sich zu bekennen. Der Wettbewerb um Argumente und Ideen bildet die Ursuppe der Demokratie; Wahlkämpfe fügen ihr die notwendige Würze hinzu, ohne die der Wähler den Appetit an der Mitbestimmung verlieren würde.

Selbstverständlich sind die Antworten der Kanzlerin in der NSA-Affäre völlig unzureichend, aber immerhin: Sie muss reagieren, denn das Thema hat das Potential, den Ausgang der Bundestagswahl zu beeinflussen. Genau das ist der Grund, warum sich Herr Barroso und Frau Ashton nicht zu Wort melden: Sie sind nicht direkt vom Volk gewählt und fühlen sich keinem europäischen Wähler gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet.

Es wird Zeit, dass sich das ändert. Die Europawahl 2014 bietet eine erste Chance. Die Parteienfamilien wollen jeweils einen Spitzenkandidaten nominieren. Die Kandidaten reisen dann durch Europa und stellen sich den Bürgern, TV-Debatten inklusive. Damit ist es aber nicht genug. Ziel muss die Direktwahl des Kommissionspräsidenten durch die europäischen Bürger sein.

Mit ziemlicher Sicherheit würden dann andere Leute auf die Top-Posten der EU gelangen: Leute, die sich eine eigene Meinung zutrauen und öffentlichen Streit nicht für etwas Verwerfliches halten. In der Abhöraffäre wagten sich nur die EU-Kommissare Viviane Reding, die nun das Handelsabkommen mit USA in Frage stellte, und Karel De Gucht aus der Deckung. Sie mögen vielleicht manchmal über das Ziel hinausschießen, aber immerhin meldet sich bei ihnen etwas zu Wort, das Politikern nicht ganz abhanden kommen sollte: der gesunde Menschenverstand.