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Warum der Kohleausstieg wirklich abgeblasen wurde

Ein vom Stromerzeuger RWE betriebenes Kohlekraftwerk in Niederaußem, Nordrhein-Westfalen Ein vom Stromerzeuger RWE betriebenes Kohlekraftwerk in Niederaußem, Nordrhein-Westfalen
Ein vom Stromerzeuger RWE betriebenes Kohlekraftwerk in Niederaußem, Nordrhein-Westfalen
Quelle: picture alliance/ dpa/ Boris Rössler
Bundeskanzlerin Merkel (CDU) hält an einem sinnlos gewordenen CO2-Ziel für Deutschland fest. Genüsslich kann sie nun dabei zuschauen, wie sich SPD-Ministerien bei der Umsetzung selbst zerfleischen.

Der traditionelle Zoff zwischen dem Umweltministerium und dem Wirtschaftsministerium in Berlin nimmt absurde Züge an. Früher wurden die beiden Häuser ja noch von Ministern unterschiedlicher Parteizugehörigkeit geleitet: Da lag es nahe, dass über Fragen der Energiewende zuweilen heftig gestritten wurde. Inzwischen aber liegen beide Häuser in den Händen von SPD-Politikern: Umweltministerin Barbara Hendricks könnte also eigentlich an einem Strang ziehen mit dem ebenfalls sozialdemokratisch geführten Wirtschaftsministerium von Sigmar Gabriel.

Und doch schien die Kluft zwischen den beiden Häusern in der vergangenen Woche größer denn je. Umweltministerin Hendricks erklärte, zur Erreichung des deutschen Klimaschutzziels müsse der Staat Kohlekraftwerke zwangsweise abschalten. Bundeswirtschaftsminister Gabriel widersprach umgehend: Ein Kohleausstieg zeitgleich zum Atomausstieg sei wirtschaftlicher Selbstmord und mit ihm nicht zu machen.

Bei einer solch frontalen Kollision im Kabinett müsste eigentlich die Bundeskanzlerin mit Richtlinienkompetenz für Klarheit sorgen. Doch wo war Angela Merkel? Vom G-20-Gipfel im fernen Australien aus sah die Kanzlerin genüsslich zu, wie sich ihre Koalitionspartner gegenseitig an die Gurgel gingen. Für ein Eingreifen sah sie keinen Grund, obwohl sie eine beträchtliche Mitschuld an dem Schlamassel trägt.

Denn in Wirklichkeit ging es beim dem Zwist zwischen Hendricks und Gabriel nur scheinbar um die klassische Rollenverteilung Umweltschutz hier, Kohlelobbyismus dort. Tatsächlich stammten die Kohleausstiegspläne sogar aus dem Bundeswirtschaftsministerium selbst. Als Medien berichteten, die Pläne für den Kohleausstieg gingen auf Ideen aus dem Bundesumweltministerium zurück, unterließ es das Haus Hendricks lediglich, diesen falschen Eindruck geradezurücken.

Gabriels Abrechnung mit Greenpeace in voller Länge

Vizekanzler Sigmar Gabriel spricht auf einem Energiepolitik-Kongress in Berlin. Plötzlich wird er von Greenpeace-Aktivisten gestört. Wie er kontert, ist sehenswert. Hier die Rede in voller Länge.

Quelle: N24

In Wirklichkeit hatte Bundeskanzlerin Merkel den zuständigen Fachministerien aufgetragen, Pläne dafür zu entwickeln, wie Deutschland das im Koalitionsvertrag festgelegte Ziel einer 40-prozentigen Reduktion des Treibhausgases CO2 bis 2020 erreichen könnte. Grund: Experten der Unternehmensberatung McKinsey und andere Institute hatten der Bundesregierung vorgerechnet, dass sie das Erreichen dieses extrem ambitionierten Minderungszieles für praktisch ausgeschlossen halten. Damit drohte der einstigen „Klimakanzlerin“ Merkel auf der großen Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen in Paris Ende 2015 ein peinlicher Offenbarungseid: Man kann halt schlecht auf der Weltbühne von anderen mehr Klimaschutz-Anstrengungen einfordern, wenn man zu Hause nicht einmal seine eigenen Ziele erfüllt.

Einige Kraftwerksbetreiber befürworteten Stilllegungspläne

Das Bundesumweltministerium entwickelte daraufhin ein „Aktionsprogramm Klimaschutz“, das neben der Förderung für Heizungserneuerung und Energieeffizienz zwar viel Richtiges enthielt, aber unter dem Strich einen entscheidenden Nachteil hatte: Mit ihm allein würde sich das ehrgeizige 40-Prozent-Ziel nicht erreichen lassen. Das Bundeswirtschaftsministerium spielte deshalb den Ausputzer: Nach Informationen der „Welt“ arbeiteten Gabriels Wirtschaftsstaatssekretär Rainer Baake und der Abteilungsleiter Energie, Urban Rid, die Pläne für einen partiellen Kohleausstieg im Detail aus. Demnach sollten Stein- und Braunkohlekraftwerke mit insgesamt jeweils fünf Gigawatt Leistung aus dem Markt genommen werden.

Die Architekten der Energiewende nahmen ihre Aufgabe sehr ernst: Der „Welt“ liegt eine Liste vor, die zwar keine Absenderadresse trägt, aber minutiös insgesamt 28 Kraftwerksstandorte aufführt, denen offenbar der Stecker gezogen werden sollte. Alle Kraftwerke zusammen ergeben genau jene zehn Gigawatt Leistung, die zur Erreichung des 40-Prozent-Ziels im Klimaschutz stillgelegt werden müssten.

Darunter befinden sich mehrere Steinkohleblöcke des Energieriesen E.on (Scholven B und C, Wilhelmshaven 4). Der Kraftwerksbetreiber Steag sollte gleich fünf Kraftwerke mit insgesamt 1500 Megawatt aufgeben. Vattenfall wurde der Verzicht auf die Kraftwerke Wedel und Reuter vorgeschlagen, die Stadtwerke Hannover sollten den Block Mehrum mit 690 Megawatt aufgeben, die Stadtwerke Bremen die Anlage Bremen-Hafen 4.

Zusätzlich zu den Steinkohlekapazitäten von insgesamt 4965 Megawatt führt die Liste 14 Braunkohlekraftwerke mit insgesamt 5066 Megawatt Leistung auf, die alle dem westdeutschen Energieriesen RWE gehören, darunter die Blöcke Niederaußem C bis H, drei Anlagen in Neurath sowie weitere Kraftwerke in Frimmersdorf und Weisweiler.

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Dass der Braunkohlekonzern Vattenfall auf diesem Teil der Liste fehlt, hat offenbar zwei Gründe: Zum einen sind die Anlagen in den östlichen Bundesländern durchweg relativ modern. Eine Zwangsstilllegung durch eine Verschärfung der Immissionsgrenzwerte wäre hier deshalb schwierig.

Zum anderen würde Vattenfall wohl keinen Käufer mehr für seine deutschen Braunkohleaktivitäten finden, wenn die Politik in die Verkaufsgespräche hineingrätscht: Zehntausende Arbeitsplätze im strukturschwachen Osten ständen dann auf dem Spiel.

Dass sich das Bundeswirtschaftsministerium überhaupt mit der Stilllegung von Kohlekraftwerken beschäftigt, hat mit der besonderen Interessenlage in der deutschen Energiewirtschaft zu tun: Mehrere Unternehmen, deren Steinkohlekraftwerke wegen der Energiewende ohnehin kein Geld mehr abwerfen, würden eine „Stilllegungsprämie“ des Bundes gern kassieren.

Denn durch diese künstliche Verringerung des Angebots würden auch die Strompreise am Großhandelsmarkt steigen. Experten rechnen gar mit einem Preisschub um zehn Prozent. Folge: Wenigstens die übrige Kraftwerksflotte würde dann wieder einigermaßen Geld mit der Stromproduktion verdienen können.

Bei einigen Kraftwerksbetreibern stießen die Stilllegungspläne des Bundeswirtschaftsministeriums deshalb auf offene Ohren. Doch die RWE konnte Baake offenkundig zu keinem Deal bezüglich der Braunkohle bewegen. Denn die Beamten hatten nicht bedacht, dass mit den einzelnen Kraftwerken auch noch die Wirtschaftlichkeit der Tagebaue im Rheinischen Revier auf dem Spiel steht. Auf einen politisch veranlassten Stilllegungsbeschluss hätte der Konzern deshalb wohl ähnlich reagiert wie auf den Atomausstieg: mit einer milliardenschweren Schadenersatzklage gegen die Bundesregierung.

40-Prozent-Ziel lediglich „ein Fetisch“

Ohne Einverständnis der Betreiber hielt Bundeswirtschaftsminister Gabriel das politische Risiko für zu hoch. Er kassierte die Stilllegungspläne seiner eigenen Beamten wieder ein und zerriss sie öffentlich in der Luft: Bei einem Kongress der Deutschen Energieagentur (Dena) in der vergangenen Woche ließ Gabriel kein gutes Haar an der Idee eines nationalen Kohleausstiegs: Dies würde unter dem Dach des Europäischen Emissionshandels nur zu einer Verlagerung der Emissionen in die Nachbarländer führen. Auch würde ein solches Vorgehen die Versorgungssicherheit gefährden und die Strompreise für die Industrie erhöhen.

Damit zeigt Gabriel nebenbei auch, wer Herr im Hause an der Berliner Invalidenstraße ist. In Unionskreisen war zuletzt schon das Wort vom „Baake-Ministerium“ zu hören, wenn es um Energiepolitik ging. Denn der akribisch planende Staatssekretär galt vielen als der eigentliche Architekt der deutschen Energiewende. Mit seinem Machtwort zur Kohle zeigte Gabriel, dass er nicht gewillt ist, seinen Staatssekretär nach belieben schalten und walten zu lassen.

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Damit bleibt allerdings nach wie vor offen, wie die Bundesregierung ihr 40-Prozent-Ziel bei der CO2-Minderung denn erreichen will. Intern mehren sich bereits die Stimmen, die auch aus systematischen Erwägungen für eine Aufgabe des nationalen Ziels eintreten. Das 40-Prozent-Ziel sei lediglich „Symbolpolitik“, oder „ein Fetisch“, wie es in Ministeriumskreisen heißt.

Mit gutem Grund: Das Ziel einer 40-prozentigen CO2-Reduktion stammt noch aus dem Jahr 2007. Damals hatte Deutschland noch festes, von der EU-Kommission abgesegnetes „Budget“ an CO2-Emissionsgutscheinen. Damals mochte es noch als Zeichen einer besonderen Ambitioniertheit durchgehen, wenn Deutschland die europäischen Zielvorgaben zu übertreffen suchte.

Nur: Mit dem Ablauf des Jahres 2012 haben sich die Regeln des europäischen Emissionshandels fundamental verändert: Seit 2013 gibt es kein deutsches CO2-Budget mehr, sondern nur noch ein gesamteuropäisches. Damit gibt es auch keine „deutschen“ Emissionen mehr, sondern nur noch „europäische“. Nationale Sonderziele ergeben in diesem System keinen Sinn mehr: Im Gegenteil verzerren nationale Alleingänge die Preisbildung auf dem europäischen Markt für Emissionszertifikate. Da die deutschen Kohlekraftwerke allesamt der europäischen Emissionshandelspflicht unterliegen, dürften sie eigentlich nicht mehr zusätzlich als Instrument einseitig nationaler Ziele benutzt werden.

„Die nationale deutsche Politik hat auf die Emissionen der Anlagen, die dem Emissionshandel unterliegen, in Deutschland keinerlei direkten Einfluss mehr“, sagt Jürgen Hacker, Vorsitzender des Bundesverbandes Emissionshandel und Klimaschutz (BVEK). „Es ist daher schlicht Unsinn, sie in einem nationalen deutschen Klimaschutzziel einbeziehen zu wollen.“

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