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Reise Koffer

Geheimnisvolles Etwas, bewegliches Rätsel

Jeder Koffer am Flughafen ist ein Geheimnisträger: Birgt er Muscle-Shirts oder Hotpants Größe 52? Oder gediegene Abendgarderobe? Zudem sind Koffer auch Zeitzeugen. Eine kleine Phänomenologie.
Reporter
Koffer, die auf Flugreisen verlorengehen, werden versteigert Koffer, die auf Flugreisen verlorengehen, werden versteigert
Einsamer Koffer am Berliner Flughafen Tegel: Womit war eigentlich der alte Goethe unterwegs?
Quelle: Reto Klar

Kein anderer Gebrauchsgegenstand, von Seife und Zahnbürste mal abgesehen, steht dem Menschen so nahe wie der Koffer, „ein quaderförmiges, robustes, mit einem Deckel versehenes, verschließbares Behältnis für den manuellen Transport von Gegenständen“ (Wikipedia). Man könnte eine Kulturgeschichte der Menschheit anhand des Koffers schreiben.

Wie sahen die Gepäckstücke aus, mit denen die Römer auf Reisen gingen? Waren sie aus Stoff, Leder oder Holz? Was benutzte Goethe, unterwegs in Italien, um seine Hemden und Hosen zu transportieren? Einen Kleidersack oder einen frühen Samsonite? Und wieso kamen die Cowboys auf ihren tagelangen Ritten mit dem Wenigen aus, das in die Satteltaschen passte? Haben Sie nicht täglich ihre Unterwäsche gewechselt?

Angst vor Achselhöhlen und Krampfadern

Jeder Koffer ist ein Geheimnisträger. Das Ehepaar am Check-in-Counter sieht aus, als würde es nach der Landung sofort in die Stranddisco eilen. Sie in Hotpants Größe 52, einem engen, bauchfreien Top und Sandaletten; er in einem porösen Muscle-Shirt, kaputten Shorts und Flip-Flops an den nackten Füßen.

Was mag nur in den zwei bis an die Belastungsgrenze gefüllten Koffern drin sein, die sie eben aufgegeben haben? Ein Monatsvorrat an Hotpants und Muscle-Shirts? Abendgarderoben für die After-Pool-Partys? Die gesammelten Werke von Rosamunde Pilcher und Uta Danella?

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Es kostet mich jedes Mal eine Überwindung, nicht auf die Leute zuzugehen und sie zu fragen: „Entschuldigen Sie bitte, haben Sie wirklich nichts anderes mehr gehabt, das Sie für den Flug hätten anziehen können? Muss ich mir jetzt wirklich zwei Stunden lang Ihre Achselhöhlen und Krampfadern ansehen?“

Stattdessen bitte ich den Allmächtigen, mich nicht in dieselbe Reihe zu setzen. Meistens hat er ein Einsehen und erhört meine Gebete.

Der Abschied fällt oft schwer

Die Beziehung zwischen einem Koffer und seinem Besitzer ist hoch emotional. Einige meiner Bekannten haben daheim eine Koffersammlung, als hätten sie vor, demnächst in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Aber sie nehmen immer nur ihren „Lieblingskoffer“ mit, wobei völlig unklar ist, womit der sich für diese Vorzugsbehandlung qualifiziert hat.

Andere trennen sich eher von einer sechs Monate alten Stereoanlage, sobald sie einen Kratzer abbekommen hat, als von einem Koffer, dem man auf den ersten Blick ansieht, wie oft er schon vom Gepäckwagen gefallen ist. Und je öfter man zusammen unterwegs war, umso schwerer fällt der Abschied, und sei es nur ein temporärer.

Wenn der Koffer, mit einem geheimnisvollen Buchstabenkürzel versehen, auf dem Gepäckband davonrollt, schaut ihm sein Besitzer so gerührt hinterher, als wär’s ein naher Verwandter, der in den Operationssaal geschoben wird.

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Manchmal ist es tatsächlich ein Abschied für immer, denn manche Koffer verschwinden spurlos, bei der einen Airline mehr, bei der anderen weniger.

Wo der Mensch zum Jäger wird

Ähnlich gefühlsbetont ist der Moment des Wiedersehens nach der Ankunft am Zielort. Meistens ist der Reisende vor seinem Gepäck da.

Ich denke in solchen Situationen immer an Eltern, die ihre Kinder im Kindergarten abholen. Sie könnten sich jedes beliebige Kind greifen, aber nein: Es muss das eigene sein. Und so ist es auch mit dem Koffer. Mögen alle anderen neuer, schöner, größer, im besseren Zustand sein, der Reisende würdigt sie keines Blickes.

Erst wenn der eigene Koffer in Sicht kommt, entspannt er sich, atmet durch und setzt zum Grand Finale an.

Es ist der Moment, da der Mensch, völlig unabhängig von Bildung, Erziehung und Einkommen, zum Jäger regrediert, der seine Beute keinem anderen überlassen möchte. Die einen laufen ihrem Gepäckstück entgegen, als wäre es eine Fata Morgana, die sich gleich in Luft auflösen könnte; die anderen positionieren sich ganz nah am Gepäckband und holen sich eher einen Leistenbruch, als dass sie das gute Stück noch eine Runde drehen ließen.

Und wenn sie dann alle Teile eingesammelt haben, die ihnen gehören, und diese, aufeinandergetürmt auf einem Gepäckwagen, zum Ausgang schieben, wirken sie so glücklich wie eine Familie, die auf der Flucht auseinandergerissen und nach vielen Jahren wieder vereinigt wurde.

Diejenigen aber, deren Gepäck in Mumbai statt in München gelandet ist, sitzen bei „Lost & Found“ und machen „sachdienliche Angaben“ über das Aussehen und die Größe der verloren gegangenen Stücke, wie Eltern, die ihre vermissten Kinder bei der Polizei melden.

Koffer sind auch Zeitzeugen

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Tatsächlich sind Koffer nicht nur nützlich, um Inhalte von A nach B zu befördern, sie sind auch Zeitzeugen.

Früher konnte man an den Aufklebern erkennen, in welchen Hotels die Reisenden logiert haben und mit welcher Reederei sie über die Meere gefahren sind.

Im Zeitalter von Trivago und Expedia, da nur noch das jeweils billigste Angebot zählt, sind solche Souvenirs aus der Mode gekommen. Bali ist kein exotisches Reiseziel mehr, es liegt nur etwas weiter weg als der Ballermann. Der Schrankkoffer, mit dem Hercule Poirot, Agatha Christies Meisterdetektiv, verreiste, wäre heute ein absolutes Reisehindernis.

Manchmal freilich ist ein Koffer alles, was übrig bleibt.

Im Museum von Auschwitz gibt es einen Raum voller Koffer; auf der Kasseler Documenta wäre so etwas eine „Rauminstallation“, über deren Symbolik sich die Kritiker streiten würden. Stehen die Koffer für die Fragilität oder die Mobilität der menschlichen Existenz da?

In Auschwitz steht die Antwort stumm, aber unüberhörbar im Raum. Unter gewissen Umständen kann ein Koffer eine längere Lebenserwartung als dessen Besitzer haben.

Ein Symbol für die Evolution

Der Koffer symbolisiert aber auch die Evolution. Vor etwa 1,9 Millionen Jahren lernten die „Frühmenschen“ den aufrechten Gang. Bis dahin bewegten sie sich auf allen Vieren. Aus dem Homo erectus entwickelte sich dann vor etwa 200.000 Jahren der Homo sapiens, der von Afrika aus die Welt eroberte.

Der Weg aus der Steinzeit in das Zeitalter des Internets dauerte über 2,6 Millionen Jahre und führte über die Bronzezeit, die Eisenzeit in die Frühgeschichte, die ihrerseits im antiken Griechenland und mit dem Römischen Reich ihren Anfang an und – erst mit dem Zerfall der Habsburger Monarchie zu Ende ging.

Die Evolution des Koffers ging wesentlich schneller vonstatten. Noch vor 50 Jahren musste er von Hand getragen werden. Der Gepäckträger war ein nützlicher und geachteter Beruf.

Bis jemand die Idee hatte, zusammenklappbare Untersetzer auf Rollen zu produzieren, die kleine Schubkarre für unterwegs. Dann kam der Koffer auf zwei Rädern, den man an einem Griff oder einem kurzen Seil hinter sich ziehen konnte. Er war instabil und kippte leicht zur Seite.

Die nächste Koffergeneration hatte schon vier Räder und war leichter zu manövrieren. Der Koffer von heute ist so gebaut, dass man ihn neben sich führen kann. Das kostet kaum Mühe und sieht elegant aus. Der Koffer von morgen wird wie ein kleines Luftkissenboot über dem Boden schweben.

Doch egal, wie es mit der Evolution des Koffers weitergeht, er wird immer ein geheimnisvolles Etwas, ein bewegliches Rätsel bleiben. Wie eine verhüllte Frau, von der man nur die Schuhe sehen kann.

Der Rest ist Fantasie.

Ein paar Koffer bleiben immer übrig, wenn ihre Besitzer längst zu Hause sind. Verloren und vergessen in Flugzeugen und auf Gepäckbändern. Irgendwann werden sie versteigert. Wir waren bei einer Auktion in Berlin und haben einige Gepäckstücke erstanden.

Der Koffer, den Henryk M. Broder bekam, war klein, pink und zum Rollen, wobei die Räder nicht mehr einwandfrei funktionierten. Im Koffer war nicht viel außer Kleidung und den Gelben Seiten (auf Griechisch).

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