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Pleite bei Privatversicherten 150.000 Opfer von Ulla Schmidt

Sie zahlen keine Beiträge mehr, aber rauswerfen dürfen die Krankenkassen sie nicht: Privatversicherte, die sich ihre Police nicht mehr leisten können, sind das Strandgut der letzten Gesundheitsreform von Ulla Schmidt. Schon 150.000 Deutsche sind davon betroffen.
Arztbehandlung: Bei ruhenden Leistungen wird nur noch Notversorgung gezahlt

Arztbehandlung: Bei ruhenden Leistungen wird nur noch Notversorgung gezahlt

Foto: A3472 Frank May/ dpa

Berlin - Zu Dörte Elß kommen die Opfer von Ulla Schmidt. Der Taxifahrer, der Angestellte mit dem Mini-Rentenanspruch, die geschiedene Beamtengattin. Alle eint, dass sie Schwierigkeiten haben, ihre private Krankenversicherung zu zahlen. Elß ist Verbraucherschützerin in Berlin. In ihrem kargen, kleinen Büro am Bahnhof Zoo gibt sie für 20 Euro pro halbe Stunde Tipps, wie man Krankenversicherungsbeiträge drückt. "Viele kann ich aber nur weiter zur Schuldnerberatung schicken", sagt Elß.

Die Misere ist im Lauf der vergangenen drei Jahre entstanden. Früher warfen Kassen Mitglieder, die ihre Beiträge nicht zahlten, einfach raus. Es galt das Motto: Wer nicht zahlt, ist auch nicht versichert. Wer dann krank wurde, musste für die Behandlung sein eigenes Vermögen aufbrauchen. Wer zum Sozialfall wurde, für den übernahm der Staat die Behandlung.

So einfach ist es heute nicht mehr. Seit Januar 2009, seit der letzten Reform der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, gilt: Jeder Bürger in der Bundesrepublik muss krankenversichert sein. Ob er will oder nicht. Für die privaten Krankenversicherungen wird das immer mehr zum Problem: Etwa 150.000 Nichtzahler sorgen bereits für einen Schaden von rund 550 Millionen Euro. Der PKV-Spitzenverband schätzt, dass die Kosten sogar deutlich höher liegen, weil einige Unternehmen die Beiträge bereits abgeschrieben haben.

Die Nichtzahler sind ein Symptom für die Misere des deutschen Gesundheitssystems. Immer neue Reformen sorgen für immer mehr Komplexität - und im Ergebnis gilt meist: Gut gemeint heißt noch lange nicht gut gemacht.

Versicherer haben Experiment der Billig-Tarife eingestellt

Probleme haben nun vor allem Arbeitslose, die sich aus der Not heraus selbständig gemacht haben. Also zum Beispiel Taxifahrer, Imbissbudenbetreiber oder Handwerker. Diese Selbständigen suchten nun Ende 2008 kurz vor Beginn der Versicherungspflicht nach einer möglichst günstigen Krankenversicherung - und wurden meist bei privaten Anbietern fündig. Um Kunden zu werben, begannen die Einsteigertarife bei gerade mal 100 Euro pro Monat. In der gesetzlichen Kasse wird schnell das Dreifache fällig. Die Hoffnung der privaten Kassen: Wenn die Selbständigen in Zukunft mal mehr verdienen, würden sie auch mehr für ihre Gesundheit ausgeben.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Grund ist die prekäre Lage vieler Ein-Mann-Unternehmer. Mittlerweile haben die Anbieter das eingesehen und die Billigtarife geschlossen. Das führt aber wiederum dazu, dass die monatlichen Beiträge deutlich steigen. Ende 2011 sorgte die fünftgrößte private Krankenversicherung, die Central, mit Erhöhungen von bis zu 40 Prozent für Aufsehen.

"Wer von 500 Euro im Monat lebt, dem bricht bereits eine Erhöhung um 50 Euro das Genick", erzählt Elß und erklärt, was dann passiert: Wer nicht zahlt, wird nach einem Jahr in den sogenannten Basistarif herabgestuft. Dieser entspricht von den Leistungen etwa der gesetzlichen Krankenversicherung. Doch das löst das Problem nicht: Denn der Basistarif orientiert sich am maximalen Beitrag der gesetzlichen Krankenversicherung, also rund 600 Euro pro Monat. Wenn Bedürftigkeit festgestellt wird, kann der Beitrag auf die Hälfte reduziert werden, macht dann immer noch rund 300 Euro aus. Diesen übernimmt dann das Sozialamt oder das Jobcenter.

Wer seinen Beitrag über einen längeren Zeitraum nicht zahlen kann, für den stellt die Kasse das Ruhen der Leistungen fest. Das bedeutet: Die Versicherung muss nur noch die Behandlung von akuten Krankheiten und Schmerzen zahlen, nicht mehr. Wer sich bei einem Unfall ein Bein bricht, kann also trotzdem zum Arzt gehen. Eine Vorsorgebehandlung oder eine Reha ist dagegen ausgeschlossen.

Versicherte dritter Klasse

Verbraucherschützerin Elß: "Die Patienten trauen sich nicht, zum Arzt zu gehen. Und dann gibt es Fälle, in denen die Behandlung verweigert wird, weil die Praxen fürchten, dass die Rechnungen nicht übernommen werden." Ihr Fazit: "Man ist Versicherter dritter Klasse."

Längst hat sich eine Szene der Nichtzahler entwickelt, die in Internetforen wie versicherungtalk.de  oder forum-schuldnerberatung.de  Tipps austauscht. Dort schildert etwa der Nutzer "Timmy" sein Problem: In den vergangenen Jahren hätten sich die Schulden bei seiner Krankenversicherung fast verdreifacht, klagt er. "Während des Insolvenzverfahrens durfte ich nicht an die Kasse zahlen." Also stieg die Summe aufgrund der Zinsen von 4000 auf 11.000 Euro. Er leide nun immer noch unter hohen Schulden, obwohl das Insolvenzverfahren abgeschlossen ist und er eigentlich von vorn anfangen könnte.

Die anderen Teilnehmer des Internetforums empfehlen Timmy, mit der Versicherung einen Vergleich auszuhandeln - also zum Beispiel ein Drittel der Summe zu zahlen. Allerdings seien solche Deals "reine Glücksache", schreibt der Nutzer "alaborn", weil sie von der Gunst "der jeweiligen Sachbearbeiter abhängen".

Auf versicherungtalk.de schildert "Gaebler" die Situation seines Schwiegervaters. Der sei selbständig, habe sich "immer gerade so über Wasser gehalten und keine Rücklagen fürs Alter" gebildet. Nun liege sein monatlicher Beitrag bei 850 Euro, die erwartete Rente aber leidiglich bei 650 Euro. Doch für einen Wechsel in die gesetzliche Krankenversicherung ist es zu spät. So lautet der wenig ermutigende Rat des Nutzers "Barmer" auch lediglich, der Schwiegervater solle sich vom Sozialamt die Bedürftigkeit bescheinigen lassen. Konkret: Es droht der Sturz in den Hartz-IV-Bezug.

Versicherungen hoffen auf den Nichtzahler-Tarif

Nicht nur Versicherte, auch die Unternehmen klagen über das Problem. Anders als die gesetzlichen Kassen, die gerade einen Überschuss von vier Milliarden Euro angehäuft haben, muss die private Konkurrenz ohne staatliche Hilfen auskommen. Die Versicherungspflicht hat ihnen viele Kunden eingebracht, auf die sie lieber verzichten würden.

Die Kassen setzen nun darauf, dass die Politik einen sogenannten Nichtzahler-Tarif genehmigt. Der würde lediglich die Akutversorgung übernehmen - also wie bei den ruhenden Leistungen -, aber im Gegensatz zum Basistarif nur 100 Euro monatlich kosten. Wenn die Versicherungen dann auch auf diesen Forderungen sitzen bleiben, hat es immerhin geringere Folgen für die Bilanz. Doch das Finanzministerium, das einen solchen neuen Tarif absegnen müsste, bremst die Erwartungen der privaten Krankenversicherungen. Über einen Nichtzahler-Tarif werde zwar nachgedacht, es könne aber keine Rede davon sein, dass der schon bald eingeführt werde.

Noch sind vor allem Menschen betroffen, die ohnehin wirtschaftliche Sorgen haben, also unter hohen Schulden leiden und ein geringes Einkommen haben. Doch in den kommenden Jahren dürfte das Problem sich verschärfen. Dann könnten selbst Gutverdiener in die Verlegenheit geraten, dass sie sich ihre ständig steigenden PKV-Beiträge nicht mehr leisten können.

Dörte Elß ist der Fall einer Angestellten besonders in Erinnerung geblieben: Die Frau stand kurz vor der Rente, hat immer ordentlich verdient. Doch mit Anfang 50 hat sie den entscheidenden Fehler gemacht: Sie wechselte in die private Krankenversicherung. Da sie wegen ihren Kindern aber länger im Job ausgesetzt hat, fällt ihre Rente mit rund 1000 Euro eher schmal aus. Ihr monatlicher Beitrag liegt bereits jetzt bei 600 Euro - und könnte noch deutlich steigen.

Was kann sie tun? Elß sieht keinen wirklichen Ausweg. Zurück in die gesetzliche Krankenversicherung darf die Frau nicht mehr, das ist nur bis 55 Jahre möglich. "Leider kommt sie von dieser Last wohl nicht mehr runter, es sei denn, sie wechselt in einen anderen Tarif oder reduziert ihre Leistungen."