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Literatur Großer Todes-Sprung

Sagt endlich, dass Mao der größte Massenmörder war

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Sein Programm versprach Getreide und Fortschritt – und brachte 45 Millionen Chinesen ums Leben. Mao Zedong (1893-1976) verantwortet das brutalste Menschenexperiment der Geschichte. Sein Programm versprach Getreide und Fortschritt – und brachte 45 Millionen Chinesen ums Leben. Mao Zedong (1893-1976) verantwortet das brutalste Menschenexperiment der Geschichte.
Sein Programm versprach Getreide und Fortschritt – und brachte 45 Millionen Chinesen ums Leben. Mao Zedong (1893-1976) verantwortet das brutalste Menschenexperiment der Geschichte.
Quelle: Getty Images getty
Im Zuge des „Großen Sprungs nach vorn“ starben in China 45 Millionen Menschen. Doch lange wurde Maos Terror verharmlost – gerade auch im Westen. Eine neue Studie bringt die ganze Wahrheit ans Licht.

Zwischen 1958 und 1962 starben in China 45 Millionen Menschen über die normale Sterblichkeitsrate hinaus. Sie waren Opfer einer von Menschen gemachten Hungersnot. Sie starben im Zuge eines groß angelegten Menschenexperiments, das von seinem Urheber Mao Zedong als „Großer Sprung nach vorn“ verkündet worden war. In der Praxis war Maos „Großer Sprung“ der größte Massenmord der Geschichte.

Keiner der Hauptverantwortlichen wurde je zur Rechenschaft gezogen. Bis heute herrscht – nicht nur in China selbst, wo der Kult um den „Großen Vorsitzenden“ Mao von seiner immer noch herrschenden Kommunistischen Partei gepflegt wird – eine bedrückende Unkenntnis eines der düstersten Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Viel Unkenntnis – sogar beim Altkanzler

Nur so kann man die Äußerungen etwa eines Helmut Schmidt verstehen, der zwar nicht leugnet, dass es „viele Millionen Tote“ als „unvorhergesehene Folge des Großen Sprungs“ gegeben habe, „also des Versuchs, die Bauern dazu zu bringen, aus Schrott Stahl zu schmelzen statt Reis oder Weizen zu ernten“, aber dennoch meint: „Ich bin nicht gegen das System Maos. (...) Mao hat die Toten nicht gewollt.“

Ob Mao die Toten gewollt hat oder nicht, ist vermutlich eine Frage der Interpretation. Richard Snyder etwa hat in „Bloodlands“ gezeigt, wie die von Stalin provozierten Hungersnöte in der Ukraine Millionen „unnützer Esser“ in der Kornkammer der Sowjetunion beseitigen sollten, wodurch mehr Getreide für die Städte und den Export zur Verfügung stand. Hat auch Mao nach Stalins Vorbild bewusst die Reduzierung der Landbevölkerung und die Ausmerzung der Schwächsten – der Alten, Kranken und Kinder – betrieben?

Neue Studie über das ganze Ausmaß

Der holländische Sinologe und Historiker Frank Dikötter hat nun einen sorgfältig recherchierten und sachlich geschriebenen Bericht über den „Großen Sprung“ vorgelegt. In „Maos Großer Hunger“ vermeidet er jede Spekulation über mögliche versteckte Motive des „Großen Steuermanns“, er referiert das von der Partei propagierte utopische Ziel: China in wenigen Jahren zum Kommunismus zu führen, in dem jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen Bedürfnissen konsumieren sollte.

Dikötter dokumentiert das umfassende Scheitern dieser Utopie und erlaubt sich nicht die Frage, ob der Kollateralschaden von 45 Millionen Toten möglicherweise von Mao als Nutzen angesehen wurde. Denn die Kälte, mit der Mao den in Peking eintreffenden Nachrichten über die Hungersnot begegnete, spricht Bände: „Wenn es nicht genug zu essen gibt, verhungern die Menschen. Es ist besser, die Hälfte der Menschen sterben zu lassen, damit die andere Hälfte genug zu essen hat.“

Diese Aussage erinnert an Maos Rede vor den in Moskau versammelten Führern der kommunistischen Parteien der ganzen Welt anlässlich des 40. Jahrestags der Oktoberrevolution. Mao meinte, die USA und ihre Atombombe seien „Papiertiger“, denn bei einem neuen Weltkrieg wäre zwar der „Verlust von einer Hälfte der Weltbevölkerung möglich (...), aber der Imperialismus wäre ausgerottet, und die ganze Welt würde sozialistisch werden.“

Maos Rede erschreckte sogar die Sowjets

Nikita Chruschtschow, der im Jahr zuvor mit seiner Geheimrede vor dem 20. Parteitag der KPdSU Stalins Verbrechen zugegeben hatte, und die versammelten osteuropäischen Apparatschiks waren entsetzt.

Beim „Großen Sprung“ ging es um sehr viel mehr als die von Schmidt angesprochene Mobilisierung der Bauern zum massenhaften Bau kleiner Hochöfen, um Stahl herzustellen – übrigens nicht aus „Schrott“, sondern aus allem, was eingeschmolzen werden konnte, von minderwertigem Eisenerz bis hin zu konfisziertem Werkzeug; „Schrott“ war eher das Endprodukt dieses wahnwitzigen Versuchs.

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Es ging vielmehr darum, China gesellschaftlich und ökonomisch umzugestalten, aus einem feudalen Agrarland eine industrialisierte kommunistische Großmacht zu machen, die der nach Maos Ansicht nicht mehr revolutionären Sowjetunion die Führung des Weltkommunismus streitig machen würde.

Der Wahn des Kollektivs

Zu diesem Zweck wurden die Dorfgemeinschaften aufgelöst und die Bauern in riesige Volkskommunen mit bis zu 20.000 Haushalten zusammengefasst. Fast sämtlicher Privatbesitz wurde beschlagnahmt, vom Wohnhaus über die Schweine und Hühner bis hin zum Kochgeschirr. Die Bauern sollten in gemeinschaftlichen Volksküchen essen, die Kinder in kommunalen Krippen erzogen und die Frauen dadurch „befreit“ werden: zur Arbeit auf dem Feld, am Hochofen oder bei den riesigen Bewässerungsprojekten, die das Symbol des „Großen Sprungs“ waren.

Dikötters Werk ist nicht das erste über die große Hungersnot. (Der deutsche Titel, „Maos großer Hunger“, wirkt unfreiwillig komisch, als werde der unbändige Appetit des Parteichefs beschrieben.) 1996 legte Jasper Becker mit „Hungry Ghosts“ eine gut lesbare – und zornige – Darstellung vor. 2008 erschien Yang Jishengs Monumentalwerk „Mubei“, das seit 2012 unter dem Titel „Grabstein“ in deutscher Übersetzung vorliegt.

Auch Jung Chang und Jon Halliday beschreiben in ihrer Mao-Biographie diese Jahre. Dikötter hatte jedoch, anders als Becker, Zugang zu internen Quellen der KP Chinas und konnte daher Beckers grobe Schätzung der Opferzahlen – 30 Millionen – korrigieren und aus Berichten der parteiinternen Untersuchungskommissionen zitieren. Yang Jisheng schreibt in erster Linie für ein chinesisches Publikum – sein Buch ist freilich in China verboten – und lässt den internationalen Kontext außer Acht. Chang und Halliday schließlich fassen Maos Karriere als Krimi. Dikötter nimmt Mao als Revolutionär ernst.

Jeder Misserfolg galt gleich als Sabotage

„Die voluntaristische Philosophie der Partei besagte, dass der menschliche Wille und die grenzenlose Energie der revolutionären Massen die materiellen Bedingungen radikal verändern und alle Hindernisse auf dem Weg in die kommunistische Zukunft überwinden würden“, schreibt Dikötter.

Die Kehrseite dieser Philosophie, die den Marx’schen Materialismus in sein Gegenteil verkehrte, war die Unterstellung, dass jeder Misserfolg entweder auf Sabotage seitens „konterrevolutionärer Elemente“ oder auf den mangelnden revolutionären Willen der Kader zurückzuführen sei. Nirgendwo wurde dies deutlicher als bei der Aufstellung der Planziele für Getreide.

Um nicht in den Verdacht des „Defätismus“ oder der „Rechtsabweichung“ zu kommen, überboten sich die Funktionäre auf den verschiedenen Ebenen bei der Angabe von Quoten, die oft doppelt so hoch lagen wie die vor dem „Großen Sprung“ erzielten Ergebnisse; wenn dann die Zentralregierung eine Requirierungsquote von 50 Prozent festlegte, blieb den Bauern, die eher weniger produzierten als vor der Zwangskollektivierung, buchstäblich nichts zum Essen.

Die Demoralisierung der Bevölkerung

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Während der Getreideexport stieg, um von der UdSSR und der DDR teure Industrieausrüstungen zu kaufen, sank die Getreideproduktion. Einmal, weil die Landbevölkerung zum Bau von – meist nutzlosen oder ökologisch schädlichen – Staudämmen und Kanälen oder zum Betrieb von Hochöfen abkommandiert wurde; aber auch, weil die Bauern nach der Enteignung jede Motivation zum Arbeiten verloren hatten.

Schon bei der Ankündigung der Kollektivierung war es zu einem massenhaften Schlachten von Vieh und Haustieren gekommen: Was man gegessen hatte, konnte einem der Staat nicht nehmen, hieß es. Die Beschlagnahmung der Ernte tat ein Übriges. Die demoralisierten und durch Hunger geschwächten Bauern lieferten immer weniger Getreide ab und konnten nur noch mit Zwang zur Arbeit angehalten werden.

So wurde die Partei zur großen Disziplinierungsmaschine. Eine Hauptwaffe der Kader war der Nahrungsentzug; da es außerhalb der Volksküchen nichts zu essen gab, war dieses Mittel leicht einzusetzen. Aber die schiere, brutale Gewalt war so allgegenwärtig wie der Hunger: Menschen wurden wegen geringster Vergehen mit Peitschen und Knüppeln traktiert, verstümmelt, lebendig begraben, mit gebundenen Händen und Füßen in Teiche geworfen, mit siedendem Wasser übergossen, in der Kälte nackt ausgezogen oder gezwungen, barhäuptig in der Gluthitze auszuharren.

Radikale Methoden der Machthaber

Man zwang Menschen, Urin zu trinken und Exkremente zu essen. Dikötter schätzt, dass von den 45 Millionen Toten des „Großen Sprungs“ mindestens 2,5 Millionen durch brutale Misshandlung und Folter starben. Unter ihnen waren auch Kinder, Greise und schwangere Frauen.

„Die gesamte Gesellschaft wurde in einer permanenten Revolution nach militärischen Kriterien organisiert: Volksküchen, Kindergärten, kollektive Unterkünfte, Sturmtrupps und Dorfbewohner, die zu Fußsoldaten gemacht wurden. Alle Parteiführer waren Militärführer“, schreibt Dikötter. Es herrschte das Kriegsrecht, jeder war ein potenzieller Deserteur, Spion oder Verräter. „Alle Instanzen, die der Gewalt Grenzen setzen konnten – Religion, Gesetz, Gemeinde, Familie – waren weggefegt worden.“

Das war das System Maos, und wie ein Helmut Schmidt sagen kann, er habe nichts dagegen, bleibt sein Geheimnis. Freilich ist Schmidt nicht der Einzige, der von Mao eingenommen wurde. Von den gläubigen Kommunisten wie Che Guevara oder Jan Myrdal, dessen schwärmerischer „Bericht aus einem chinesischen Dorf“ im Westen zum Bestseller avancierte, soll gar nicht erst die Rede sein.

War Mao effektiv – oder nur brutal?

Doch nicht nur der linksliberale Ökonom John K. Galbraith pries das „höchst effektive Wirtschaftssystem“ Maos; auch der Schah von Persien spielte mit dem Gedanken, seine rückständige Landbevölkerung in großen Kommunen nach chinesischem Beispiel zusammenzufassen. Der spätere französische Präsident François Mitterrand meinte nach einem Besuch in Peking 1961, Mao sei „kein Diktator“, sondern im Gegenteil „ein Humanist“, ja „ein neuer Menschentypus“.

Selbst eine so kritische Beobachterin wie Hannah Arendt behauptete in einem Vorwort zur Neuauflage ihres Standardwerks „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ 1966, es habe nach Maos Machtübernahme 1949 „keine Zunahme des Terrors, keine Massaker unschuldiger Menschen“ und überhaupt „keine ausgesprochenen Verbrechen“ gegeben. Zwar sei Maos Politik der „Umerziehung“ gewiss Terror, aber „Terror ganz anderer Art, der die Bevölkerung nicht dezimierte“. Mao sei nämlich kein „instinktiver Killer“.

Wir alle dachten, Mao hätte Charisma

Der Autor dieser Zeilen, der sich 1968 als Achtzehnjähriger für die farbigen Bilder glücklicher Bauern und starker Arbeiter und für das Kleine Rote Buch mit den Worten des wie ein Buddha lächelnden Vorsitzenden Mao begeisterte, erinnert sich noch heute mit einem unguten Gefühl daran, wie wenig dem lautstarken und ahnungslosen Möchtegernrevolutionär damals seine Lehrer entgegenzusetzen hatten.

1968 war auch in China ein Wendepunkt. Sechs Jahre zuvor hatte die KP Chinas Maos mörderisches Menschenexperiment abgebrochen. Staatspräsident Liu Shaoqi gab zu, dass die Katastrophe „zu 70 Prozent“ von der „zentralen Parteiführung“ zu verantworten sei. Mao, dieser „neue Menschentypus“, musste vorübergehend den Rückzug antreten.

1968 aber initiierte er die „Große Proletarische Kulturrevolution“, um mit Hilfe der fanatisierten Jugendlichen in den „Roten Garden“ Liu Shaoqi und andere „Machthaber, die den kapitalistischen Weg gehen“, aus der Parteiführung zu säubern und die revolutionäre Umgestaltung des Landes im Sinne seines „Großen Sprungs“ fortzusetzen.

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