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Schaufelradbagger und Geisterdörfer: Wie die Braunkohle das Rheinland prägt

Foto: A3250 Oliver Berg/ dpa

RWE und die Kohle Alarmstufe braun

Atomausstieg und Energiewende setzen RWE immer stärker zu. Sogar die Braunkohle ist kein Rettungsanker mehr.

Am wichtigsten ist das Pedal, denn ohne das Pedal geht nichts. Permanent muss Arno Lorenz seinen Fuß auf das Metallrechteck drücken. Nur so frisst sich sein 13.500-Tonnen-Schaufelradbagger im Tagebau Garzweiler weiter in die Wand aus Sand und Braunkohle. Nur wenn das Pedal den Boden berührt, lassen sich all die Hebel und Knöpfe in seinem Führerstand überhaupt bedienen. Nimmt Lorenz den Fuß hoch, stoppt das Rad.

Das soll auf keinen Fall passieren. Sogar wenn der 52-Jährige aus seinem gefederten Sitz aufsteht und Platz für den Schichtnachfolger macht, bleibt ein Fuß auf dem Pedal. "Es geht immer weiter", sagt der Großgeräteführer vom Energieversorger RWE.

Geht es wirklich immer weiter? Bleibt die Braunkohle der letzte Goldesel für den ansonsten arg geplagten Energieversorger? Daran wachsen derzeit die Zweifel.

Lange gab es für Zweifel keinen Grund. Seit vielen Jahrzehnten fressen sich Bagger durch die Gegend westlich von Köln und Düsseldorf. Stets war dies ein äußerst einträgliches Geschäft für den Versorger RWE und das Vorgängerunternehmen Rheinbraun.

Konkurrenzlos billiger Brennstoff

In Garzweiler ist leicht zu erkennen, weshalb: Das Geschäft mit der Braunkohle ist im Prinzip ein sehr sicheres und gut planbares Geschäft.

Bagger mit einer Spannweite von bis zu zweieinhalb Fußballfeldern tragen die Erdoberfläche ab - treppenartig auf sechs Etagen, die im Fachjargon "Sohlen" heißen. Die unterste Sohle liegt fast 200 Meter unterhalb der obersten.

Transportbänder schaffen Kohle und Sand weg. Den Sand häufen so genannte Absetzer - kaum weniger imposant als die Bagger - einige hundert Meter weiter östlich sofort wieder auf. Die Kohle fährt zu einem Bunker. Von dort bringen Züge sie direkt zu den zahlreichen Kraftwerke in der Umgebung.

Sie erhalten somit einen Brennstoff, der konkurrenzlos billig ist. Die Vorkommen sind reich, die Wege kurz. RWE muss den Brennstoff nicht von außen einkaufen. Die Kraftwerke stellen deshalb Strom zu sehr geringen Kosten her laufen deshalb fast immer unter Volllast. Das Beste: Sie gehören ebenfalls RWE.

Und doch läuft die Gewinnmaschine nicht mehr rund. Die Lizenz zum Gelddrucken ist in ernster Gefahr.

Verunsicherte Kraftwerker: "Am liebsten würden wir natürlich Strich durchfahren"

In der Leitzentrale des Braunkohlekraftwerks Neurath ist auf den ersten Blick alles in Ordnung an diesem Dezembertag. Ein schlicht geschmückter Weihnachtsbaum schafft etwas Wärme in dem kargen Großraum.

Sieben Männer in blauen Arbeitsanzügen starren auf die Bildschirme, und was sie sehen, erfreut sie. Kraftwerksingenieur Björn Seidel zeigt auf die Zahl "1050", zweimal erscheint sie in dicken schwarzen Ziffern. Die Generatoren der beiden Kraftwerksblöcke Anlage liefern also die volle Leistung - 2100 Megawatt. So lassen sich mehr als drei Millionen Haushalte versorgen.

Doch das ist hier schon nicht mehr der Dauerzustand. Sogar hier nicht, im laut RWE modernsten und effizientesten Braunkohlekraftwerk der Welt.

Wenn der Wind im Herbst die Rotoren antreibt, wenn an Sommerwochenenden die Sonne auf die Fotovoltaikanlagen brennt - dann kann es schon einmal vorkommen, dass der Bildschirm statt der 1050 nur eine 800 oder gar eine 600 anzeigt, sagt Seidel. Klar, diese Flexibilität zeichne das Kraftwerk aus. "Es war anfangs aber nicht geplant, dass es tatsächlich schon jetzt immer wieder hoch und herunter geregelt wird. Am liebsten würden wir natürlich Strich durchfahren."

Erneuerbare Energien auf dem Sprung an die Pole Position

Doch das ist die Realität der Energiewende im Jahr 2013: Dank üppiger Förderung und rapide sinkender Preise haben die erneuerbaren Energien weit schneller als geplant einen Großteil der Stromversorgung übernommen. 22,7 Prozent des Stroms stammten im vergangenen Jahr aus Wind, Biomasse, Sonne und Co., die Braunkohle als wichtigster Energieträger kam auf 25,7 Prozent. In diesem Jahr könnten die Erneuerbaren die Braunkohle erstmals überholen.

Denn weil für Solaranlagen und Windkraftanlagen noch geringere Brennstoffkosten anfallen als für Braunkohle und Atomkraft - nämlich gar keine - speisen sie immer Strom ein, wenn es das Wetter zulässt. Alle anderen Energieträger müssen sich hinten anstellen. Für die Männer von RWE Power ist das eine so ungewohnte wie schmerzhafte Erfahrung.

Manchmal müssen sie sogar Strom produzieren, wenn die Preise an der Börse im negativen Bereich sind, sagt Ingenieur Seidel. Das sei mitunter billiger als die Anlagen ganz auszustellen und wieder anzufahren und stabilisiere das Netz.

Die Folgen dieser Kapriolen bekommt das RWE-Management in Zahlen zu spüren. "Die Geschwindigkeit der Energiewende hat alle überrascht", sagt der Chef von RWE Power und RWE Generation, Matthias Hartung. "Daher steht die gesamte Branche gewaltig unter Druck. Das betrifft alle Energieträger, also auch die Braunkohle."

Ein Mann will RWE in die Knie zwingen

Nicht nur, dass Sonne und Wind die Großkraftwerke faktisch drosseln - sie verderben zudem die Preise. Ganze 37 Euro erlösen Versorger an der Börse noch für die Megawattstunde Strom. Vor zwei Jahren lag der Preis fast doppelt so hoch. Der Betrieb von Gaskraftwerken lohnt inzwischen nur noch im Ausnahmefall. Versorger wie RWE haben auch zahlreiche Steinkohlekraftwerke zur Stilllegung bei der Bundesnetzagentur angemeldet.

Für die Braunkohle gilt laut Hartung: Die älteren Anlagen sind ebenfalls an der Grenze zur Unwirtschaftlichkeit. Neue Kraftwerke zu bauen sei nicht mehr rentabel. Das gelte auch für die avisierte Vorzeigeanlage BoAplus in Niederaußem. Über die Investition will RWE spätestens 2015 entscheiden.

Gas lohnt nicht mehr, Steinkohle bringt immer seltener Gewinn, sogar Braunkohle schwächelt. Und dann ist da ja noch der Atomausstieg. Da ist es nur konsequent, dass RWE-Chef Peter Terium bei der jüngsten Zwischenberichts-Präsentation ein Szenario dauerhafter Verluste in der Kraftwerkssparte heraufbeschwor.

Und jetzt kommt morgen auch noch das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil zur Braunkohle. Es könnte die ganze Sache noch unschöner machen für RWE.

"Der unanständigste aller Dax-Konzerne"

Der Mann, der jahrelang gegen RWE vor den Gerichten gekämpft hat und nun auf den großen Sieg hofft, heißt Stephan Pütz. Er will nicht den Baggern weichen sondern da bleiben, wo er ist: in Immerath. Pütz bezeichnet sich als jemanden, der eher zurückgezogen lebt. "Derzeit lebe ich noch etwas zurückgezogener."

Was er meint, wird auf den Straßen von Immerath schnell klar. Die Fenster der meisten Häuser sind vernagelt. Das Krankenhaus ragt am Ortseingang wie ein abbruchreifer Plattenbau in Ostdeutschland. Um die beiden gewaltigen Kirchtürme rauscht der Wind. Vor ein paar Wochen wurde St. Lambertus entweiht, es flossen Tränen. Ein Mann mit Hund radelt durch den Ort, fast nirgendwo brennt Licht. Nur etwa 30 von ehemals 1200 Einwohnern sind noch da. "Im Ort sieht es nicht gut aus, aber es kann auch wieder besser werden", sagt Pütz.

Für ihn ist RWE "der unanständigste aller Dax-Konzerne". Weil er Menschen aus ihren Häusern vertreibe und sich dabei zu wenig um sie kümmere, vor allem seelisch. Nein, sie hätten ihn trotz seines Widerstands nicht schlechter behandelt als die anderen Leute im Ort. Einen Brief hat er bekommen im vergangenen Jahr, nun werde es aber mal Zeit, dass er sich melde wegen seiner Umsiedlung. "Es war als ob RWE einen vergesslichen alten Mann daran erinnert, dass bald die Bagger kommen."

Verfassungsgericht könnte morgen Schockwellen in der Branche auslösen

Doch morgen sehen die RWE-Anwälte Pütz in Karlsruhe wieder. Im Sommer haben er und der Bund Umwelt und Naturschutz (BUND) das Gericht in der mündlichen Verhandlung bereits bestürmt mit ihren Argumenten. Ein Recht auf Heimat machten sie geltend, die Umsiedlung sei durch das Allgemeinwohl nicht gerechtfertigt.

Folgt das Gericht der Darstellung auch nur zum Teil, drohen RWE und den anderen Braunkohle-Unternehmen wie Vattenfall oder der Mibrag gewaltiger Ärger. "Es ist denkbar, dass das Gericht das Aus für neue Tagebaue in die Wege leitet", sagt der Berliner Energierechts-Experte Christian Held von der Kanzlei Becker Büttner Held. "Das Urteil könnte massiv auf die die Braunkohle-Verstromung durchschlagen."

So könnten die Richter Menschen, die von der Umsiedlung betroffen sind, mehr Rechte an die Hand geben. Denkbar sei auch, dass sie neue Leitlinien entwickeln, anhand derer Gerichte vor Ort künftig abwägen müssen zwischen dem Recht an einem Ort wohnen zu bleiben sowie dem Anspruch auf Gewinne für die Unternehmen und dem Allgemeinwohl - in der Form, dass immer genügend Strom bereitsteht.

Doch wie wichtig ist Braunkohle dafür überhaupt? Das ist die große Frage, an der sich in Karlsruhe, aber auch in Berlin die Zukunft von RWEs stotternder Gewinnmaschine entscheidet.

Ein geflügeltes Wort mit 21 Buchstaben

An dieser Stelle kommt ein Wort mit 21 Buchstaben ins Spiel. Es ist kein besonders wohlklingendes Wort, es hat eher technisch-abstakten Charakter. Vielleicht macht gerade das seinen Reiz für die Manager von RWE und allen anderen Energiekonzernen aus, die es unablässig in die öffentliche Debatte werfen. Das Wort ist ein Versprechen, doch eigentlich ist es auch eine Drohung. Es heißt Versorgungssicherheit.

Was Versorgungssicherheit bedeutet, kann Markus Kosma leicht erklären. In einem Allrad-Geländewagen schlingert der Produktionsleiter im Tagebau Garzweiler durch den Schlamm. Aus dem Fahrerfenster blickt er auf sandiges Gelände. Auf einer Anhöhe wachsen schon einige Büsche, die Bagger sind längst weitergezogen.

Auch ein paar gewaltige Windräder ragen in die Höhe. Allein, sie stehen still.

"Die Windräder drehen sich oft nicht", sagt Kosma. "Aber sie sollen hier wirklich nicht demonstrieren, dass Windkraft keine Alternative zur Kohle ist." Kein Augenzwinkern, kein Grinsen. Kosma ist kein Kohle-Nostalgiker, der den Energieträger der Tradition halber liebt. Er sieht das ganz sachlich durch seine randlose Brille.

Ein Schatz im Wert von 115 Milliarden Euro

Ist doch klar: Wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, müssen konventionelle Kraftwerke ran. Sonst gehen die Lichter aus. Wohl dem, der günstige Braunkohle hat. "Es wäre energiewirtschaftlich nicht nachvollziehbar, wenn wir diesen heimischen Energieträger nicht nutzen würden", sagt Kosma.

Unter dem Lößboden des Rheinlandes schlummern noch 3,1 Milliarden Tonnen von den energiereichen Überresten der alten Urwälder, die hier vor Jahrmillionen wuchsen. Damit könnten die Kraftwerke länger als 30 Jahre laufen. Nicht zuletzt ist das ist eine Menge, die sogar bei dem gegenwärtig niedrigen Strompreis Erlöse von etwa 115 Milliarden Euro für RWE verspricht. Wenn sich daraus in Zukunft doch noch Gewinne machen lassen - und sei es mithilfe neuer Marktregeln - dann lohnt es sich dafür zu kämpfen.

Voraussetzung ist, dass Bundesverfassungsgericht nicht allzu hart urteilt und die Rohstoffgewinnung in Tagebauen nicht wesentlich erschwert. Es wird auch darauf ankommen, ob die Richter der Braunkohle denselben Wert beimessen, wie es RWE, Vattenfall und viele Politiker tun.

"Es gibt keine politische Grundsatzentscheidung für die Braunkohle"

Zwar möchte sich das höchste Gericht nicht in die politische Debatte über die Bedeutung einzelner Energieträger einmischen. Doch letztlich muss es zumindest zwischen den Zeilen auch darüber befinden, ob Braunkohle wirklich so sehr dem Allgemeinwohl dient und ohne sie die Versorgung wirklich gefährdet ist.

Wären nicht auch Gaskraftwerke geeignet, Flauten und Wolkenwetter zu überbrücken? Von ihnen gibt es jedoch zu wenige, und neue zu bauen lohnt sich derzeit nicht. Aber würde sich das nicht insbesondere dann wieder rechnen, wenn nicht mehr so viele Kohlekraftwerke da wären?

Entscheidend könnte für die Richter gerade die Tatsache sein, dass Gesellschaft, Politik und Wissenschaft erbittert über solche Fragen streiten. "Früher war klar: Es gibt eine politische Grundsatzentscheidung zur Stromerzeugung mit Braunkohle", sagt Anwalt Held. "Heute steht diese Grundsatzentscheidung nicht mehr."

Mit anderen Worten: Das Land ist sich nicht mehr sicher, dass Braunkohle so gut für es ist, dass dafür Dörfer weggebaggert und Menschen umgesiedelt werden dürfen. Vor Gericht könne RWE deshalb nicht mehr ohne weiteres mit dem Allgemeinwohl argumentieren.

Plant RWE bereits den Ausstieg? Garzweiler könnte laut Studie 2019 schließen

Am deutlichsten zeigt sich das beim Thema Klimaschutz. Seit die Energieversorger ihre Pläne zur unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid mehr oder weniger begraben mussten, stehen Kohlekraftwerke wieder als Dreckschleudern am Pranger. Tatsächlich emittieren Braunkohlekraftwerke bis zu dreimal mehr Kohlendioxid als Gaskraftwerke, um eine Kilowattstunde Strom zu produzieren.

Studien zeigen, dass es mit der Braunkohle unmöglich wird, die selbst gesteckten Ziele zur CO2-Reduzierung zu erreichen. "Die offiziellen Klimaschutzziele der Regierung stehen im Widerspruch zu den Plänen der Stromversorger", sagt Held. "Beides passt nicht zusammen."

Die Braunkohle rechnet sich nicht mehr so gut wie früher, sie ist unbeliebt bei der Bevölkerung und passt auch nicht wirklich gut zum Unternehmens-Slogan "Vorweg gehen". Längst heißt es bei Politikern, Managern und Unternehmensberatern hinter vorgehaltener Hand, RWE wäre womöglich nicht ganz unglücklich darüber, wenn Karlsruhe dem Unternehmen den Weg zum Ausstieg ebnet. Zudem lote das Unternehmen bereits Kompensationen für einen freiwilligen Abschied aus. "Denen ist klar, dass sie die Braunkohle langsam auslaufen lassen müssen", sagt ein Berater.

Ist an der Autobahn 61 Schluss?

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat gerade durchgerechnet, dass die Kohlegewinnung in Garzweiler im Jahr 2019 an der Autobahn 61 beendet werden könne. Geplant ist bisher das Jahr 2045. Ein Brennstoffengpass für die Kraftwerke sei nicht zu erwarten, wenn der Tagebau Hambach kurzfristig mehr Kohle produziere. Mehrere Dörfer blieben so verschont, auch Immerath.

RWE weist solche Szenarien und die Berichte über einen geplanten Ausstieg als Spekulation zurück. Er begrüße lediglich, "dass das oberste Gericht sich mit der Thematik befasst und für Planungssicherheit aller Betroffenen sorgen wird", sagt RWE-Power-Chef Hartung zur Karlsruher Entscheidung. Zudem bedauere er die Unsicherheit, die zuletzt Berichte über das frühzeitige Aus für Garzweiler in der Bevölkerung ausgelöst hätte. Nach diesen hatte die Stadt Erkelenz Vorbereitungen für weitere Umsiedlungen gestoppt.

Mit diesem Thema ist Großgeräteführer Arno Lorenz schon lange durch. Er hat früher selbst in Otzenrath gewohnt. Der Ort wurde vor sieben Jahren abgerissen, den Untergrund hat sein Bagger vor sieben Jahren verschlungen. "Die Sache war im Ort umstritten", sagt er. Dennoch seien die meisten Menschen mit nach Neu-Otzenrath ein paar Kilometer nördlich umgesiedelt und fühlten "sich dort heute heimisch".

Er wusste, dass es so kommt. Er kennt das, er ist im Revier großgeworden. Viele hier haben ihren Frieden mit der Braunkohle gemacht. Der Bagger ist für den Großgeräteführer Lorenz natürlich keine Bedrohung. Bedrohlich wäre schon eher, wenn das Schaufelrad aufhören würde sich zu drehen. Den Fuß hält Lorenz deshalb fest auf dem Pedal.