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Klaus Woltron

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Tractatus ironico — philosophicus.

Vom Denken, den Begriffen und dem Unsinn aller Sinnsuche

Tractatus ironico — philosophicus.

Vom Denken, den Begriffen und dem Unsinn aller Sinnsuche.

Der Seele Grenzen kannst du
schreitend nicht ausfindig machen,
auch wenn Du jeden Weg dahinzögest
so tiefen Logos hat sie.
Heraklit

Einleitung

Wenn Sie diese Überlegungen gelesen haben werden, wird Ihre Verwirrung höchstwahrscheinlich groß sein. Alles in diesem Aufsatz Geschriebene führt sich in einer bemerkenswerten Weise selbst ad absurdum, was man erst beurteilen kann, wenn man ihn zu Ende gelesen hat. Diese seltsame Kon-sequenz ist allen tautologischen . und pleonastischen Verirrungen eigen. Wie jede Wanderung macht sich jene entlang unseres Gedankenexperi-ments dennoch bezahlt. Man kehrt zwar an den Ausgangspunkt der Reise zurück, ist aber um einige Erfahrungen, Einsichten und Bilder reicher. Nicht allzu wissenschaftlich soll vorgegangen werden, aber unter weitest-gehender Berücksichtigung all dessen, was bekannt und an Für und Wider verfügbar ist. Es wird versucht, in knappster Form die Erfahrungen und Er-kenntnisse aus verschiedensten Wissengebieten zusammenzuführen, um die Begrenztheit und Rückbezüglichkeit allen Denkens deutlicher ans Licht zu bringen und damit die Qual mancher uralter, unlösbarer Probleme aus der Welt zu schaffen.

Vom Gehirn

Wie alle unsere Organe ist auch Gehirn und Nervensystem über Jahrmillionen hinweg an seiner Aufgabe gewachsen, hat sich dem jeweiligen Biotop angepasst und sich an ihm geformt . In den frühen Kindheitstagen hat es sich darüber hinaus, weich und plastisch, der individuellen Umwelt ange-schmiegt, sowohl Programme als auch Speicherinhalte an die gegebenen Erfahrungen weiter angepasst und ist sodann einem fortschreitenden Er-starrungsprozess ausgesetzt . Es ist, als Werkzeug, gewissermaßen ein Ab-bild seiner Aufgabe und auch Geschichte, der Um — und Inwelt, daher a priori auf sich selbst zurückgeworfen. Außerdem ist es ganz offensichtlich trotz seiner enormen Komplexität naturgemäß in seinen Speicher — und Verknüpfungskapazitäten kleiner und weniger komplex als „die Welt“ selbst– was immer das auch ist. Es kann daher im besten Falle ein vergrö-bertes, in der Struktur aber sicher vergewaltigtes, seinen eigenen Fähig-keiten und Konstruktionsprinzipien (seinem „Betriebssystem“) entspre-chendes und damit höchst subjektives „Bild“ — auch dieser Ausdruck ist schon wieder eine Vergewaltigung — wiedergeben und ins Bewusstsein bringen. Das Höhlengleichnis Platons bedarf einer gründlichen Revision.

Ab dem Zeitpunkt dieser Erkenntnis sollten wir eigentlich schon aufhören, über Dinge und Zusammenhänge, die außerhalb der unmittelbaren prakti-schen und sinnlichen sowie der streng wissenschaftlichen Sphäre liegen, nachzudenken . Sind wir uns darüber einig geworden, dass das Instrument, welches wir gerade benutzen, in gewisser Weise schon von seinem Werk-stück geformt wurde, der Spiegel ein Abdruck der „Wirklichkeit“, den er spiegeln sollte, ist — warum sollten wir dann mit dem für unseren Plan we-nig geeigneten, parteiischen Apparat weitersuchen? Unser Nervensystem wird uns zwangsläufig auf seine programmierten Bahnen zwingen und al-les, wofür es nicht konstruiert und gewachsen ist — alles, was außerhalb der unmittelbaren Umgebung und sinnlichen Erfahrung unserer evolutionären Vorfahren lag — nicht bewältigen und uns Kopfschmerzen und Pein — fausti-sche Pein und Verzweiflung — verursachen. Wir tun’s, weil wir müssen, weil wir von Natur aus neugierig sind, weil wir nicht anders können, weil wir das Instrument über dessen Möglichkeiten hinaus missbrauchen und immer missbraucht haben — weil wir gewohnt sind, uns durch die Suche nach dem prinzipiell Unmöglichen unglücklich zu machen. Vielleicht entwickelt sich die Maschinerie an dieser Pein immer ein paar Millimeter weiter — dies kommt aber bestenfalls unseren Ururururenkeln zugute. Uns bleibt der Schmerz unerfüllter Suche. Man kann eigentlich nur ironisch, mit Humor, an diesem Gedankenfaden weiterspinnen.

Vom Bewusstsein und den Begriffen

Bewusstsein ist der Fall, wenn Stimmungen, Gefühle, später Gedanken, Begriffe und Sprache, Hypothesen und Theorien als ein unmittelbares Empfinden des „Selbst“ eine ganz bestimmte Seins — Barriere durchbrochen haben. Es ist wohl anzunehmen, dass aufgrund der Rückbezüglichkeit unse-res Denkapparats gerade dieses Phänomen niemals wirklich ergründet und verstanden werden kann, da der Umstand der Selbsterklärung gerade hier besonders deutlich zu Tage tritt: Der Spiegel wird zum Bild, und umge-kehrt. Der unmittelbaren Einsicht — um nicht den trügerischen Begriff „Wahrheit“ zu verwenden — kommt aber folgende Erkenntnis-Stütze wohl noch am nächsten: Bewusstsein findet statt, wenn ein Da — Sein unmittel-bar empfunden wird. Diese Empfindungen können in verschiedenen Stufen der Klarheit zutage treten, welche eine sehr subjektive Gesamttheorie der Um — und Innenwelt ergeben. Wenn wir, aufgrund des vorher Gesagten, darin übereinstimmen, dass unser Denkapparat eine aus vergleichsweise enger Umwelt und Notwendigkeit sich ergebende, inhärente Registrie-rungs- und Verarbeitungsmethode (Sinneserfahrung und logische Verrech-nung — wobei unsere Logik nur eines von vielen möglichen „Betriebssyste-men“ sein dürfte) entwickelt hat, ist klar, dass dieses Instrument nur für jene Aufgabenstellungen effizient einsetzbar ist, welche dieser ursprüngli-chen Bestimmung entsprechen: Der Bewältigung der Überlebensaufgaben in einer endlichen, definierten Umgebung, wie sie über Jahrmillionen „der Fall“ war. Alles darüber Hinausgehende — Unendlichkeit in allen Formen — ist ein Konstrukt, eine unzulässige Extrapolation unseres Selbst und muss zwangsläufig in Sackgassen und Unbeweisbares führen. Da uns aber der unwiderstehliche Drang innewohnt, unser logisches Instrumentarium über alle Grenzen hinaus zu missbrauchen, bleibt wohl kein andere Weg zur Be-friedigung dieses offenkundigen Triebs, als diese Sackgasse hin und zurück einigermaßen zufrieden stellend zu durchwandern. Dies sollte allerdings nicht unter dem — aus heutiger Sicht durchaus naiven und kindlich — fausti-schen Allerfassungs- Anspruch, sondern im ironischen Kontext der prinzi-piellen Unmöglichkeit erfolgen, als Spiel und Gedankenstütze zur Darle-gung eines Jahrtausende alten menschlichen Irrweges, der viel individuel-les und kollektives Unglück gebracht hat — vielleicht das meiste, das insge-samt geschehen ist. Akzeptiert man, dass unsere Logik ein ebenso unvoll-kommenes, subjektives Instrument ist wie andere Erkenntnisstützen — Se-hen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken — so ist die Annahme gestattet, ihr das alleinige Privileg zur denkenden Erkenntnis abzuerkennen und sie auf das zu reduzieren, was sie auf Grund ihrer Entstehungsgeschichte wirk-lich einigermaßen bewältigen kann: Die wissenschaftliche Sphäre sowie die Bearbeitung jener Aufgaben, welche der unmittelbaren Umgebung und Er-fahrung entspringen. Was aber folgt daraus?

Es folgt daraus nichts weniger als die Berechtigung dazu, einerseits die Logik auf jene Aufgaben zu reduzieren, welche sie allem Anschein nach über die Jahrmillionen herauf als Erkenntnisinstrument für unsere unmittelbare Umgebung geschärft haben. Andererseits das Recht, in angemessener Form auch andere Formen der Bewusstseinsbildung — sie seien hier Erkenntnis-stützen genannt — zur Erhellung der uralten Welträtsel: Raum, Zeit, Unend-lichkeit, Ewigkeit, Sinn des menschlichen Daseins, Schönheit, Gut und Bö-se, zu nutzen. Die Ergebnisse werden nicht weniger subjektiv sein als jene — bewiesenermaßen eher wenig hilfreichen — des rein logischen Denkens. Sie werden aber das Erkenntnisleid wesentlich lindern.

Die Auswirkungen


Sinnsuche

Logik, als die Lehre von den Prinzipien des richtigen, d. h. schlüssigen Denkens und Beweisführens, ist eine Erkenntnisstütze wie alle anderen auch und damit, wie Hören, Sehen und Tasten auf endliche Themata beschränkt. Alles Unendliche, sei es räumlich oder zeitlich, ist ein logisches Konstrukt, wie auch Zeit und Raum, a priori als Methode unseres Denkens ihr nicht weiter zugänglich. Damit sind aber auch alle Themen, in welchen Unendlichkeit vorkommt — ewiges Leben, unendlicher Raum, unendliche Zeit, in sich un- sinnig oder lediglich gleichnishaft, metaphorisch, wie z.B. in der Mathematik, die mit rein logischen Werkzeugen arbeitet und damit über jene niemals hinausgelangen kann. Weiters sind demnach alle Versu-che, ein unendliches, in sich abgeschlossenes Bild der Welt oder einen übergeordneten Sinn des Lebens zu suchen, ebenfalls un- sinnig und irreal.

Dem Menschen ist es eigen, die Informationen, über welche er verfügt, in einem Ursache — und Wirkungsmuster logisch zu verknüpfen und somit eine stetig wachsende Theorie seiner In — und Umwelt zu konstruieren. Nicht zuletzt dank dieser Eigenschaft konnte er sich die gesamte Tier — und Pflanzenwelt untertan machen. Führt man aber dieses im Endlichen geeig-nete Verfahren ins Unendliche weiter — sei es bei der Suche nach den Grenzen von Raum und Zeit oder einem den Erscheinungen innewohnenden Über- Sinn, dem Transzendentalen, muss die Logik zwangsläufig in Zirkel-schlüsse und Verzweiflung führen. Alles Unendliche ist logischem Nachden-ken prinzipiell unzugänglich, weil es einem der Logik eingebauten Irrtum a priori entspringt.
Individuelle Weltmodelle und Selbstfindung

Stimmt unsere Annahme, dass die Theorie über die Welt samt deren innerer Mechanik — der Logik — erstens-

1. unserem Erkenntnisapparat a priori bereits weitestgehend inhärent ist,
2. in den ersten Lebensphasen vervollständigt und verfestigt wird und
3. im weiteren Verlauf des Einzelschicksals die Anpassungsfähigkeit des Gehirns deutlich sinkt-

so ergibt sich daraus zwangsläufig ein schicksalhafter Konflikt:

Die individuelle Theorie des Einzelmenschen über die Welt — sein „Welt-bild“ — und die jeweils aktuelle Wirklichkeit werden im Laufe seines Lebens in immer stärkerem Ausmaß auseinander klaffen. Er wird versuchen, ent-weder sich oder die Welt zu verändern, um die quälende Diskrepanz zu beseitigen, was naturgemäß nicht oder nur unvollkommen gelingen kann. Der Grund hierfür liegt einerseits in der Begrenztheit, andererseits der schleichenden Erstarrung seines Erkenntnisapparates, dessen Fähigkeiten immer der gerade aktuellen Erfahrungsaktualität und Aufgabenstellung hinterherhinken. Zusammen mit der prinzipiellen Unmöglichkeit, das Un-endlichkeitsproblem intellektuell zu erfassen, stellt dieses psychische In-kompatibilitätsprinzip wohl eine der wichtigsten Ursachen für persönliches Leid und Unglück dar. Nur ein bewusster und anstrengender, tief greifen-der Paradigmenwechsel kann aus dieser Falle zeitweilig herausführen.
Paradigmenwechsel

Das in den ersten Lebensjahrzehnten entwickelte Weltbild (die individuelle Welttheorie, der Lebensentwurf) wird im Verlaufe der individuellen Exis-tenz unzuverlässiger, da es mit der wachsenden Summe von Erfahrungen in immer offensichtlicherem Maße kollidiert. Es bleibt nicht aktuell, die Ent-wicklung angepasster oder neuer Regeln und logischer Verbindungen eilt dem Geschehen prinzipiell hinterher. Gelingt es einem Menschen nicht, periodisch in einer schicksalhaften Kraftanstrengung einen bedeutenden Teil seiner selbstverständlich erworbenen Prinzipien und Sichtweisen be-wusst zugunsten aktuellerer Modelle abzustreifen, wird er in zunehmen-dem Maße aus der Realität herausfallen und verzweifeln — in den ver-schiedensten Formen. Gelingt der Paradigmenwechsel, so entsteht ein neues Gleichgewicht zwischen Weltbild und „Realität“. Eine wirklich selbstverständliche, neue „geistige Heimat“ wie in den ersten Lebensjah-ren kann jedoch in der Regel nicht mehr entstehen. Dazu sind die ersten Prägungsphasen zu intensiv und lang anhaltend. Begleitet wird dieser stu-fenweise ablaufende Entfremdungsprozess daher von zunehmender Ironie, Zynismus, Abwendung, Verzweiflung oder lächelndem, oft resignativem Einverständnis und der Abwendung von logischer Sinnsuche- je nach Um-ständen und Charakter. Vermeiden kann und sollte man ihn nicht. Je schneller die Änderungen in der Umwelt ablaufen, umso ausgeprägter ist der geschilderte Effekt.

Eine Lebenshypothese, ein Lebensentwurf ist in erster Linie dann nützlich, wenn dem Einzelnen ein Maximum an praktisch brauchbarer Orientierung verschafft wird. Erst in zweiter Linie kann sie an ihrer Allgemeingültigkeit gemessen werden, die es nach dem obern Gesagten nie vollkommen geben kann. Daraus wiederum folgt, dass es stets einen bis zu einem gewissen Grad unauflösbaren Widerspruch zwischen ethischen — also für alle Indivi-duen einer Gruppe gültigen — und individuellen Lebenshypothesen geben wird. Weiters leitet sich ab, dass innerhalb kulturell und sprachlich eini-germaßen homogener Gruppen und anderen, welche eine andere Geschich-te und Kultur haben, stets Konflikte und Missverständnisse bestehen wer-den, welche auch durch noch so ausgeprägten guten Willen nicht vollkom-men überbrückbar sind. Erst eine — wahrscheinlich immer hypothetisch bleibende — Verschmelzung der verschiedenen Kulturen würde die größten Reibungsflächen und Kommunikationsprobleme aus der Welt schaffen.

Zusammenfassung

1. Die evolutionäre Entstehungsgeschichte des menschlichen Gehirns zeigt, dass alle seine Funktionen — auch die Logik — sich an seinen jeweiligen, praktischen Aufgaben empor entwickelt haben: Sie sind gewissermaßen ein Abbild derselben. Dies bedingt, dass es für endli-che Aufgaben bestimmt ist, in einer begrenzten Dimensionalität (Zeit, Raum Ursache und Wirkung — alle diese Parameter sind will-kürlich und haben mit irgendwelchen „Realitäten“ nichts oder nur bedingt zu tun) funktioniert und für alles, was darüber hinaus hypo-thetisch denkbar ist, ungeeignet ist. Dennoch versucht es sich immer wieder an derartigen Problemen und muss dabei zwangsläufig schei-tern.

2. Die Frage nach dem Sinn des Lebens — als eines dieser, Unendlich-keit enthaltenden, Themata, (in diesem Falle die Gesamtheit der verfügbaren Problemstellungen und Informationen) in allgemeiner Form ist un- sinnig, unbeantwortbar, aporisch, weil sie ein unend-lich großes, alle Erscheinungen umfassendes logisches Gebäude vo-raussetzt, welches wegen der inhärenten Endlichkeit und Unzuläng-lichkeit der Logik nicht darstellbar ist. Eine brauchbare Lebenshypo-these — Philosophie — kann nur individuell und praktisch sein.
3. Das menschliche Weltbild enthält a priori die wesentlichen Katego-rien des Denkens und entwickelt sich sehr schnell in den ersten Le-bensjahren zu einer individuellen Theorie, einem „Konstrukt“ der Welt. In der späteren Entwicklung des Individuums entstehen zu-nehmende Diskrepanzen zwischen diesem Weltentwurf und den hin-zukommenden neuen Erfahrungen, welche nur durch periodische, tief greifende Paradigmenwechsel zum Teil aufgelöst werden kön-nen. Dennoch gewinnt der Mensch seine ursprüngliche selbstver-ständliche „Heimat“ des ersten Weltentwurfs nie wieder zurück und ist einem steigen Entfremdungsprozess unterworfen, dem er sich mittels logischer Methoden nie entziehen wird können.

4. Daher ist es sinnlos, über Themata, welchen in irgendeiner Weise der Begriff Unendlichkeit oder Allgemeingültigkeit anhaftet, nach-zudenken. Alles logische Denken, welches über praktische, zwi-schenmenschliche und streng wissenschaftliche Themata hinausge-langen will, führt zwangsläufig in die Verzweiflung oder über sich hinaus — in die Transzendenz, Mystik oder Religion. Andere Auswege gibt es nicht.

5. Ein großer, wenn nicht der größte, Teil menschlichen Leids — faus-tischen Schicksals und unerfüllten Selbstfindungsstrebens– resultiert aus dem prinzipiell unerfüllbaren Drang, Probleme der Unendlich-keit mit logischen Mitteln zu lösen — sei es im Raum, in der Zeit, auf der Suche nach dem Sinn, oder der bei Bewältigung des Problems des Todes.

Wozu das Gehirn nicht gemacht ist, damit soll es sich nicht beschäfti-gen: Womit wir wieder dort angekommen sind, wo unsere Reise be-gann.

Ethik, Moral und Sinn

In der Moral handelt der Mensch nicht als Individuum, sondern als Dividuum.

F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches

Sinn

Der denkende Mensch braucht zu seiner Ruhe, seinem Glück, zu seiner harmonischen Existenz zwischen den Dingen, die er wahrnimmt, eine geschlossene, logische Verknüpfung, ein in sich geschlossenes System, einen "Sinn". Nur innerhalb einer Gesellschaft, deren Wertesystem überwiegend auf einem derartigen Gedankengebäude auf¬baut, ist harmonisches Zusammenleben möglich. Ist diese Verkettung geistig nicht zufrieden stellend, so ergibt sich als Resultat Unruhe, Unzufriedenheit, Unlust, Unsicherheit, Angst. Die prinzipielle Unmöglichkeit, ein logisch gänzlich zufrieden stellendes, zureichendes Gedankengebäude zu errichten, welches die menschliche Existenz so erklärt, dass ein Endziel, eine klare Absicht für die Existenz des einzelnen, ein "Sinn" in der naiven Bedeutung sichtbar wird, hat dazu geführt, das Ziel des menschlichen Lebens ins Jenseits, in einen Himmel, in das Weiterleben der unsterblichen Seele zu verlagern. Auf diese Weise hat man in allen Kulturen und Religionen, zu allen Zeiten und überall auf der Welt die intellektuell nicht füllbaren Lücken im geistigen System mit "Glauben", mit "Metaphysik", mit Transzendenz gestopft.

Sinnlosigkeit

Die Zunahme des Wissens und die Erforschung vieler weißer Flecken auf der Landkarte der Wissenschaften haben dazu geführt, daß die Grenze zum Unbekannten immer weiter hinausgeschoben wurde, gleichzeitig aber das Wissen um das prinzipiell Unerklärbare präziser und endgültiger — und da-mit hoffnungsloser — wurde. In Verbindung mit den stärker werdenden Zweifeln am überkommenen Gottesbegriff, der Skepsis im Hinblick auf die Lehren von der unsterblichen Seele und ein Weiterleben nach dem Tode hat sich, insbesondere im Westen und in den sogenannten "aufgeklärten Demokratien", eine Hoffnungslosigkeit entwickelt, die auf Sinnleere und alle damit verbundenen Leiden zurückzuführen ist. Millionen Menschen haben erkannt, daß das Leben eines Individuums ohne Einbettung in ein sinnerfülltes Ganzes sinnlos ist.

Überindividualität des Lebens

Das Leben ist überindividuell, alle Regel- und Steuermechanismen, die wir in der Natur beobachten, sind, zumindest in ihrem Grundstrom, auf die Erhaltung des Lebens insgesamt ausgerichtet. Das Individuum ist ein zeitlicher Baustein des Lebens und der Arterhaltung, der Kontinuität untergeordnet. Die Grundprinzipien der Evolution nehmen auf das Individuum keine Rücksicht, Lust und Unlust — Triebfedern des individuellen Handelns — dienen in erster Linie der Ansteuerung von arterhaltendem Verhalten und erst nachrangig der Erhaltung des Individuums.

Die Unmöglichkeit der Sinnfindung im isolierten Individuum

Da der Mensch, zwar über unendlich viele Zwischenstufen und Schleifen, aber letztendlich doch, dieser Gesetzmäßigkeit ebenfalls unterworfen ist, kann er emotionell und intellektuell sein Glück in der Individualität allein und für sich allein nicht finden. Er kann auch den Sinn so nicht fin-den. Alle Suche nach einem Sinn, der nicht überindividuell ist, ist aus einem ganz einfachen Grunde a priori "sinnlos": Der Mensch ist nur scheinbar ein Individuum, in Wirklichkeit ist er, aus seiner biologischen Geschichte heraus, ein Transportmittel für die menschliche Art, gleichzeitig Same und Frucht, gleich¬zeitig Knospe und Blüte, und daher nur in dieser Übergangs-form ganz verstehbar und mit "Sinn", in unserer limitierten Erkenntnismöglichkeit, identifizierbar.

Die Einbettung des Individuums in die Biosphäre

Jedes Wesen auf dieser Erde ist in irgendeiner Weise, und sei es auch noch so wenig, von allen Lebewesen, die vor ihm und mit ihm gelebt haben bzw. leben, abhängig und beeinflusst. Das Leben ist "insgesamt", alle Individuen sind nur Bausteine, vielfach zeitlich, räumlich und in Wechselwirkungen verzahnt. Alle uns bekannten Gesetze der Evolution verfolgen oder, präziser und besser, bewirken eine "Ziel- Setzung : Das Leben breitet sich immer weiter aus, wird vielfältiger, erobert immer mehr Dimensionen.

Daraus folgt, dass alles, was dem Leben insgesamt schadet, auch dem Menschen letztendlich schadet. Wenn aber die treibende Kraft der Evolution, wie immer man sie nennt — "Weltwille", Mutation und Selektion, Durchsetzung des Stärkeren, Erhöhung der Komplexität, — das oberste uns er-kennbare und logisch fassbare Naturgesetz ist, folgt, dass es auch das oberste Gesetz für den Menschen sein muss- und damit auch sein "Sinn".

Das oberste Gute ist, was dem Leben nachhaltig nützt.

Alles, was in diese Richtung hin geschieht, ist nachhaltig gut, und alles, was von dieser Richtung abweicht- und sei es noch so "gut" im engeren, moralischen, Sinne- ist, wenn schon nicht böse, so zumindest schlecht. Sinn hat das, was dem Leben insgesamt nützt, weil es, in seiner Gesamt-heit, der Grundkonstruktion des Menschen insgesamt am besten entspricht.

Tu das, was dem Leben nützt, und Du wirst sehen, daß das, im Mittel, Deinen Sinnbedarf am nachhaltigsten deckt.

Kommentare
Rudi Nagiller am 14.07.2016 um 07:19 Uhr:

Lieber Klaus Woltron, Du denkst genau wie ich. Das produziert in mir - siehe oben - ein angenehmes Gefühl. Und da ich das immer wieder - siehe oben - reproduzieren möchte, lese ich auch Deine Tweets sehr gern. So bin ich auch auf dieses - siehe oben - kluge Essay gestoßen.
Herzliche Grüße RN