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Erziehungswissenschafter Albert Wunsch: Es geht um die Qualität des Umgangs.

 

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STANDARD: Verbirgt sich hinter der Forderung nach der Fähigkeit zur Selbstführung von Vorgesetzten unterschwellig womöglich auch der Gedanke, dass direktives Führungshandeln nicht mehr in die Zeit passt?

Wunsch: Sich selbst führen zu können bedeutet, über sich selbst, über das eigene Tun und Lassen, das eigene Verhalten nachgedacht zu haben, sich also mit sich selbst auseinandergesetzt zu haben. Hinter der Fähigkeit zur Selbstführung steht also ein Erkenntnisprozess, der in der Regel dazu führt, sich etwas ungeschönter und wirklichkeitsnäher und weniger abgehoben von anderen zu sehen. Das wiederum bewirkt erfahrungsgemäß nicht nur einen veränderten Umgang mit sich selbst, sondern auch mit anderen. Beispielsweise werden "die anderen", sprich die Mitarbeiter, aus dieser Haltung heraus nicht mehr bewusst oder unbewusst als Untergebene gedacht und behandelt und bevormundet, sondern als diejenigen, mit denen zusammen eine Aufgabe gelöst, eine Zielstellung erreicht werden soll. Über dem Führungsgeschehen schwebt sozusagen als gedankliches Leitbild nicht mehr ein Ich, sondern ein Wir. Die Fähigkeit zur Selbstführung sorgt dafür, dass die Mitarbeiterpotenziale besser, gleichzeitig aber auch schonender als bisher erschlossen werden.

STANDARD: Das nach wie vor in den Köpfen rumorende Übereinander muss endlich einem entfesselnden Miteinander Platz machen?

Wunsch: Das trifft den Kern der Sache. Die Härte des Wettbewerbs und die Geschwindigkeit des Wandels verlangen ganz einfach, dass sich Vorgesetzte und Mitarbeiter, um es mit einem heute gern benutzten Begriff zu sagen, auf Augenhöhe begegnen, dass das Wissen, gegenseitig aufeinander angewiesen zu sein, die Umgangsqualität bestimmt. Diese Art der führenden Begegnung ist in einer Wirtschaft unerlässlich, in der es für die Führungskräfte aufgrund der Geschwindigkeit und der Komplexität des Geschehens schlicht und einfach nicht mehr möglich ist, alles besser zu wissen und alles besser zu überblicken als die ihnen zugeordneten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Worauf es doch heute ankommt, ist, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so einzusetzen, dass sie nicht wie ein Rädchen innerhalb einer Maschine funktionieren, sondern sich als selbstregelnde Mitwirkende in das Geschehen einer zwangsläufig zunehmend flexibler zu gestaltenden Organisation einbringen. Anders herum gesagt: Worauf kommt es heute bei der Führungsarbeit an? Vorgesetzte müssen ihre Leute von sich überzeugen, sie müssen sie hinter sich bringen, sonst können sie sie nicht mitnehmen, sonst ziehen die Mitarbeiter nicht mit.

STANDARD: Die enormen Veränderungen verlangen nach einem neuen Typ von Führungskräften?

Wunsch: Ja. Kennen Sie noch einen Betrieb, der sich mittlerweile nicht mit den Phänomenen Globalisierung, Wettbewerbsdruck, Kostendruck, Zeitdruck, Veränderungsdruck und den sich daraus zwangsläufig ergebenden Unsicherheits- und auch Verunsicherungspotenzialen herumschlagen muss? Diese Druckverhältnisse und die Notwendigkeit, ihnen Rechnung zu tragen, und zwar ohne Verschnaufpause, zehren immens an den Kräften aller in einem Unternehmen. Damit kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel: Diesem Kräfteaufwand muss etwas entgegengesetzt werden, das ihn nicht noch zusätzlich in die Höhe jagt. Und was kann das anderes sein als ein Führungsverhalten, das wenigsten auf der psychischen Seite entlastet. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an ein Wort des Managementvordenkers Reinhard Sprenger: "Mitarbeiter verlassen nicht schlecht geführte Unternehmen, sondern schlecht führende Vorgesetzte." Und dieses "Verlassen", das wollen wir bitte nicht vergessen, geschieht ja nicht nur real, durch Kündigung, sondern auch im übertragenen Sinn, durch innere Kündigung, indem die Leute einfach nicht mehr mitmachen, sich nicht mehr einbringen, die Dinge geschickt getarnt einfach laufenlassen. Diesen latenten Aderlass an Kräften kann sich kein Unternehmen mehr leisten.

STANDARD: Wird den Geführten von ganz oben bis ganz unten diese Entlastung vorenthalten ...

Wunsch: ... dann reagieren Körper, Geist und Seele bald mit einem kräftigen "Nichts geht mehr". Der Mensch im Betrieb kapituliert schlicht und einfach. Oder, wenn Sie so wollen, er resigniert, er kann einfach nicht mehr. Irgendjemand hat mir vor kurzem Burn-out als Überdruckkrankheit erklärt. Das trifft den Kern einer Entwicklung, die nach allem, was an Kenntnissen und Erkenntnissen heute dazu verfügbar ist, zunehmend problematisch wird. Steuern die Vorgesetzten mit ihrem reflektierten Selbstführungsverhalten diesem Prozess nicht aktiv gegen, wird nicht nur die oder der Einzelne, sondern bald das Unternehmen in kräftige Turbulenzen geraten. Das Vermögen, Menschen im Bewusstsein dieser schwierigen Bedingungen zu führen, wird so immer stärker zum Erfolgsmaßstab schlechthin. Und auch zum Beurteilungsmaßstab von Führungskräften. Wir brauchen im Blick auf die Gesamtentwicklung in der Wirtschaft erweiterte Beurteilungsmaßstäbe bei der Führungskräfteauswahl, die dieser Entwicklung mehr Rechnung tragen. Und zwar nicht nur auf dem Papier. Kommt es doch gerade in Krisenzeiten - und es gibt Stimmen, die sind davon überzeugt, die Wirtschaft befindet sich heute in einer permanenten Krisensituation - auf eine Führungsfähigkeit an, die Leistung bewirken kann, anstatt sie irgendwie zu erzwingen.

STANDARD: Ist es nicht zu einseitig, das Gelingen des Führungsgeschehens als alleinige Aufgabe der Führenden anzusehen? Müssen nicht auch die Geführten an diesem Gelingen mitwirken?

Wunsch: Keine Frage, alle in einem Unternehmen haben ihren Beitrag zum Gelingen beizutragen. Aber damit sind wir schon wieder bei den Führungskräften. Dazu brauchen die Geführten einen zur Mitverantwortung einladenden Handlungsrahmen, und zwar in sachlicher wie in atmosphärisch-emotionaler Hinsicht.

STANDARD: Und den können nur die Vorgesetzten bereitstellen?

Wunsch: Daran gibt es keinen Zweifel! Ich erinnere an die erwähnte Bemerkung von Herrn Sprenger. Sie spricht für sich. Und je stimmiger dieser Handlungsrahmen ist, die Rahmenbedingungen der Arbeit sind, desto selbstverständlicher wird andererseits auch die Erwartung der Vorgesetzten, dass ihre Mitarbeiter nun von sich aus mitziehen und sich ins Zeug legen. Also im eigentlichen Sinne stehen alle in einer Führungsverantwortung, sich selbst und anderen gegenüber. Lassen Sie es mich als Psychologe sagen: Selbstbezogenheit, von wem auch immer eingebracht, ist immer ein Zeichen von Ichschwäche. Insoweit sind Egoisten keine "ichbezogenen", sondern "ichlose" Menschen. Denn hier sucht ein fehlendes Selbst immer verzweifelter nach einer spürbaren eigenen Existenz und steigert sich damit letztlich in die Ichsucht. Je umfangreicher dieses Verhalten in Unternehmen deutlich wird, desto gefährdeter ist das Betriebsklima und mit ihm die Arbeitsabläufe.

STANDARD: Das Bemühen, sich selbst wirklich zu führen, ist ein täglich neu zu bewältigender Prozess. Gibt es dazu vielleicht einen Satz zum Einprägen, einen Gedächtnisanker?

Wunsch: Ja, er stammt vom für seinen selbstlosen Einsatz für Kinder im Warschauer Ghetto bekannt gewordenen polnischen Arzt und Pädagogen Janusz Korczak: "Du kannst den anderen nur so weit bringen, wie du selbst gekommen bist." Erst wenn ich an mir arbeite, kann ich als Führungskraft inspirierend und mitreißend mit anderen zusammenarbeiten, kann ich sie dahin führen, sich für die Sache einzusetzen, sich beherzt mit Widerständen auseinanderzusetzen, Neues zu wagen und innovative Wege zu gehen. (DER STANDARD, 15./16.2.2014, Hartmut Volk)