Here & There

Mail aus... Hanoi — im mystischen Reich von «Onkel Ho»

Matthias Wipf

Unser weltreisender Autor wird in Vietnam morgens um 6 Uhr geweckt. Durch den Lautsprecher schallt eine Mischung zwischen lokalen Nachrichten und Verhaltensmassregeln.

"Good morning, Vietnam!", heisst es nicht nur im bekannten US-Kinofilm, sondern gilt im übertragenen Sinne noch heute: Ausschlafen scheint im Land des noch immer omnipräsenten, obwohl längst verstorbenen Ho-Chi-Minh unbekannt oder, noch wahrscheinlicher, gänzlich verpönt. Bereits kurz nach sechs Uhr früh erklingt aus den Lautsprechern, die an praktisch jeder Strassenecke angebracht sind, eine Mischung zwischen lokalen Nachrichten, Verhaltensmassregeln für die Bevölkerung und, unvermeidlich, ein wenig kommunistischer Propaganda. Auch in unserer gemütlichen Wohnung an der Hang Bai mitten im French Quarter ist dies unüberhörbar — aber meist hat uns bis dahin das wilde Gehupe der zahllosen Mopeds und der Autos auf den Strassen Hanois eh schon geweckt. Und als wir um diese frühe Uhrzeit selbst einmal schon am Unabhängigkeitsplatz (Ba Dinh), unmittelbar neben dem Mausoleum Ho-Chi-Minhs, stehen, um dem mit militärischem Pomp absolvierten, täglichen Fahnenaufzug beizuwohnen, staunen wir, wie viele Vietnamesen allen Alters bereits mit voller Inbrunst beim Tai-Chi, beim Badminton oder sonstigem, ritualisiertem Fitnessprogramm sind. Mitmachen ist übrigens nicht nur erlaubt, sondern wird von den Einheimischen zustimmend und mit kicherndem Vergnügen quittiert.

Ganz allgemein — dies ist bei unserm Aufenthalt in Hanoi, dem "Paris des Ostens", unverkennbar — spielt sich das Leben draussen auf der Strasse ab, von der Reisnudelsuppe zum Frühstück über den Verkauf aller möglichen Dinge des täglichen Bedarfs bis hin zum Haarschnitt und zur Geburtstagsfeier der Kinder. Dies alles meist auf kleinen, blauen Plastikstühlchen, die die Fortbewegung auf den Bürgersteigen zum veritablen Hindernislauf machen. Das Überqueren der Strassen und Boulevards schliesslich gelingt nur, wenn man mutigen und möglichst gleichmässigen Schrittes losläuft, denn sonst riskiert man, ewig zu warten.

Hanoi, die älteste Hauptstadt Südostasiens, ist absolut faszinierend, lebendig, mit einer für diese Weltgegend ungewohnt pittoresken Altstadt, die grösstenteils noch auf die französische Kolonialzeit zurückgeht. Sie ist zuweilen aber auch nervig laut oder unergründlich mystisch, nicht nur wenn es um politische Fragen geht, die von Einheimischen ungern oder ausweichend beantwortet werden. Auch vom Vietnamkrieg sprechen die Jungen nurmehr ungern - obwohl die Spätfolgen vielerorts noch unübersehbar sind, an Menschen, Infrastruktur und Lebensweise. Ho-Chi-Minh, der Revolutionär, kommunistische Landesvater und Nationalheld, gerne auch chauvial "Onkel Ho" genannt, lächelt uns dafür gütig von zahllosen Plakatwänden, Banknoten und T-Shirts entgegen, und gerne wird von seinem angeblich so asketischen und aufopfernden Kampf für das vietnamesische Volk erzählt. Und plötzlich merke ich, erst jetzt so richtig, dass ich mit Vietnam nun — nach Kuba, China und Nordkorea —  mein ganz persönliches "kommunistisches Quartett" komplett habe...

Dies alles vor einer wunderschönen landschaftlichen Kulisse, die wir auch bei Ausflügen in die einzigartige Halong-Bucht, mit einer romantischen Kreuzfahrt auf einer Dschunke, geniessen sowie bei einem Abstecher ins hügelige Hinterland von Mai Chau mit seinen Pfahlbau-Häusern, weiten Reisfeldern und Wasserbüffeln als Arbeitstiere. Wir geniessen die Gastfreundschaft der Vietnamesen, die uns zu sich nach Hause zum Essen einladen, uns dafür extra auf ihren Mopeds abholen — oder treffen Germanistik-Studenten, die sich spontan als Reiseführer durch Hanoi anbieten, zum beiderseitigen vollsten Vergnügen. Unbezahlbar, wenn wir dafür im Gegenzug gefragt werden, wie denn das mit dem "Zibelemärit" bei uns genau sei. Cam on — danke, und auf ein baldiges Wiedersehen!