Hongkong/Tokio - Ein Mann gießt kochendes Wasser über das Gesicht seiner Tochter. Ein Vater bindet seinen dreijährigen Sohn mit einer Hundeleine am Fensterrahmen fest. Notärzte können ein Neugeborenes nicht mehr retten, dem stimulierende Drogen eingeflößt wurden. Eine Mutter zwingt ihre Tochter, mehr als 30 tote Goldfische zu essen: Sie waren gestorben, nachdem die Mutter Waschmittel ins Aquarium geschüttet hatte. Eine Frau stranguliert ihr Baby mit einem Kabel; es liegt seitdem im Koma. Der Polizei erzählt sie später, das Baby habe nicht aufgehört zu schreien. Für das Kind zu sorgen sei „sehr anstrengend“.

Seit Monaten erschüttern solche Berichte über Kindesmisshandlungen die japanische Öffentlichkeit. 2014 wurden den dafür zuständigen Beratungszentren fast 89.000 Fälle gemeldet, darunter 36 getötete Kinder. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer. Was die Menschen zusätzlich entsetzt, ist, dass offenbar immer mehr Eltern ihre Kinder vernachlässigen - obwohl die Geburtenrate in dem rund 127 Millionen Einwohner zählenden Land sinkt.

Allein zwischen 2013 und 2014 ist die offizielle Zahl der misshandelten und vernachlässigten Kinder um 20 Prozent gestiegen. 1990 hatte Japans Regierung erstmals Zahlen erhoben - und rund 1.000 Fälle verzeichnet. Unklar ist, worauf die rasante Entwicklung in den vergangenen Jahren zurückzuführen ist. „Sicher hat sich die Wahrnehmung verändert. Ärzte, Lehrer, Beratungszentren, Eltern selbst sind sensibler geworden“, sagt Satoru Nishizawa von der Japanischen Gesellschaft zur Vermeidung von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung. Ein stärkeres Bewusstsein allein erkläre den Anstieg allerdings nicht.

Experten sehen ein Bündel an Gründen für die immer größere Zahl überforderter Eltern. Zu den Hauptursachen zählen demnach Armut und Arbeitslosigkeit. Als Japan in den 90er Jahren in eine tiefe Depression stürzte, schlug der ökonomische Absturz häufig in Frustration zuhause um. Ehemänner verprügelten ihre Frauen, Eltern ihre Kinder.

Hinzu kommen Vereinzelung und Vereinsamung. Früher gab es in Japan enge Familienbande. Oft lebten drei Generationen unter einem Dach. Heute dominiert die „Kernfamilie“, und das ist in Japan immer öfter ein Ehepaar mit höchstens einem Kind. Hinzu kommen steigende Scheidungsraten, die den Stress und das Armutsrisiko für Alleinerziehende noch erhöhen.

Bis weit in die 90er Jahre waren Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern in Japan ein Tabu. Es scheint für die Japaner schlicht nicht vorstellbar, dass es in ihrem Land häusliche Gewalt geben könnte. Inzwischen gibt es Gesetze, die Kinder schützen sollen und jeden verpflichten, Kindesmissbrauch anzuzeigen.

Die reichen aber nicht an die Wurzel des Problems heran: die jahrhundertealten Denkstrukturen, wonach Kinder ihren Eltern gehören und keine Individuen mit eigenen Rechten sind. Disziplinarische Maßnahmen - das sehen heute noch viele so - liegen im Ermessen der Eltern. Entsprechend zögerlich sind Lehrer, Ärzte, Polizei, sich einzumischen. „Japan ist in dieser Hinsicht sehr vorgestrig“, sagt Satoru.

Vor einigen Wochen wurde ein Elternpaar festgenommen, nachdem im Kindergarten ein Bluterguss am Nacken des Kindes aufgefallen war. Eine Erzieherin fragte den Jungen, was passiert sei - und der berichtete: „Mama hat mich gewürgt, und Papa hat mich getreten.“ In der Vernehmung durch die Polizei gestand der Vater schließlich die Misshandlung des Fünfjährigen. Sie hätten es getan, „weil er freche Antworten gegeben hat“.