Faszination, die ihren Preis haben muss

Das zivilisierte und pazifizierte Europa steht ratlos da, wie es mit der enthemmten Gewalt des Islamischen Staates, dem obendrein manche seiner Kinder zulaufen, umgehen soll. Was ist zu tun?

Hans-Peter Müller
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Ein gutherziges Gespräch mit einem Sozialarbeiter wird einen zum Einsatz bereits entschlossenen Gewalttäter von seinem Plan kaum abhalten können – Mutmasslich amerikanischer IS-Kämpfer in Syrien. (Bild: Videostill via Reuters)

Ein gutherziges Gespräch mit einem Sozialarbeiter wird einen zum Einsatz bereits entschlossenen Gewalttäter von seinem Plan kaum abhalten können – Mutmasslich amerikanischer IS-Kämpfer in Syrien. (Bild: Videostill via Reuters)

Der Islamische Staat (IS) und sein Kalifat sind das grösste muslimische Sinnaufladungsprogramm der jüngeren Geschichte. Was für ein grandioses Projekt und welch phantastische Verheissung. Die Entstehung eines islamischen Grossreiches an Euphrat und Tigris, wo die Zivilisation ihren Ausgang nahm, ist ein Versprechen, das frustrierte und orientierungslose Muslime weltweit ansprechen muss. Nach allen diesen Demütigungen durch die entwickelte Welt endlich ein Grossprojekt, das die Welt in Atem hält.

Es überrascht daher nicht, dass im Zeitalter des globalen Terrorismus die internationale Rekrutierung von Kämpfern auch in Europa Erfolge zeitigt. Man stelle sich vor, was für eine mirakulöse Verwandlung der Jihad verheisst. Vom vermeintlichen «Bürger zweiter Klasse» in Europa, materiell zwar gut abgesichert, aber kulturell entfremdet, zum Märtyrer und Kriegshelden im Nahen Osten . Mehr sozialer Aufstieg geht nicht, und das in so kurzer Zeit. Das klingt in der Tat nach einem radikalislamischen Paradies auf Erden. Vom Sozialhilfeempfänger zum Kriegshelden, frei nach dem Programm: «Europa sucht den ‹Super-Terroristen›.»

Entsprechend dem westlichen Geschmack von Werbung und Marketing sind die Videoclips des Islamischen Staates aufgebaut: Schwarz vermummte, jubelnde Gestalten, fahnenschwingend auf schicken Pick-ups mit Maschinengewehr – ganz ohne westliche Technologie geht eben auch der Jihad nicht – brausen durch die Wüste und eilen von Sieg zu Sieg. Wer will da nicht mitmachen? Die Botschaft ist klar: Kämpfen macht Spass, Krieg ist ein tolles Abenteuer, vor allem, wenn man auf der Gewinnerseite steht. Auch du kannst es schaffen, Allah in einmaliger Weise für eine grosse Sache zu dienen! Das ist die überwältigende Botschaft, von der eine enorme Suggestionskraft ausgeht. Für das zivilisierte und pazifizierte Europa ist eine Schreckensnachricht, was zu kurz gekommene und desorientierte junge Muslime faszinieren mag. Aber diese Faszination muss man hier erst einmal verstehen, bevor man sie moralisch be- oder verurteilt.

Die Realität des Krieges sieht ein wenig anders aus. Gerade deutsche Muslime verfolgt die hiesige soziale Ungleichheit auch dort im verheissungsvollen Kampfgebiet. Da von geringer Bildung, kommen sie allenfalls als Fussvolk oder als Selbstmordattentäter infrage. Immerhin winken dem Märtyrer, weil als Held für eine grosse Sache gestorben, im Jenseits surreale Belohnungsversprechen. Der Realitätsgehalt dieser phantastischen Versprechen zählt wenig, wenn es um die Anwerbung kampfbereiter muslimischer Jungmänner geht.

Man hat eigene Sorgen

In Europa sind es die Salafisten, die nicht nur eine besonders strenge Islam-Tradition vertreten, sondern auch den hiesigen Anwerbungsprozess übernommen haben. Bemerkenswert ist, wie wenig das die europäische Politik und die europäischen Medien kümmert. Man hat eigene Sorgen: die europäische Krise, die Krise des Euro, die Krise in der Ukraine. Da ist der Jihad im Nahen Osten recht weit weg.

Schaut man sich die Reaktion in Deutschland an, so ist man verblüfft über ihre naive Weltfremdheit oder über ihre untauglichen Mittel. Eine grüne Politikerin, die aussenpolitisch bisher eher unauffällig agiert hat, kann die Gewalt nicht ertragen – sie kommt aus einem evangelischen Pfarrhaus. Deshalb votiert sie für eine Uno-Mission in Syrien und im Irak, um das Morden zu stoppen. Wahrscheinlich schwebt ihr ein ebenso erfolgreicher Kriegseinsatz der Bundeswehr vor wie in Afghanistan, wo deutsche Soldaten als Sozialhelfer Schulen für Mädchen und Brunnen für die Landbevölkerung gebaut haben mit unglaublichen Kosten an Geld und Menschenleben.

Also ein neues Afghanistan? Ihr kühner Vorschlag wurde deshalb von der politischen Klasse mit vornehmem Schweigen übergangen. Der Präsident des Verfassungsschutzes zeigt sich besorgt, dass die Salafisten schwunghaften Zulauf in Deutschland erhalten und Ende des Jahres wohl 7000 gewaltbereite Aktivisten umfassen werden. Und was schlägt er vor: mehr Prävention. Das kann auf keinen Fall schaden, wenn der Vorschlag auch reichlich spät kommt angesichts von geschätzten 7000 Kämpfern aus Europa. Freilich: Ein gutherziges Gespräch mit Sozialarbeiter oder Therapeut wird einen zum Einsatz bereits entschlossenen Gewalttäter von seiner Tat kaum abhalten können. Wichtiger wäre freilich eine breit angelegte und daher teure Bildungspolitik, die auch muslimischen Kindern vom ersten Tag an klarmacht, dass sie zu der Gesellschaft gehören, in der sie aufwachsen. Das ist der beste Riegel gegen die Abschottung in Parallelgesellschaften.

Schliesslich sind da die Hooligans, die sich nicht mehr wechselseitig verprügeln wollen, sondern jetzt in gewalttätiger Demonstration verkündet haben, die Salafisten aufs Korn zu nehmen. Das ist eine brisante Idee, würde hier doch Gewalt gegen Gewalt antreten und genau das zerstören, worauf Europa so stolz ist. Die Bannung der Gewalt im Innenraum ihrer Gesellschaften – das nennen wir Zivilisation. Genau diese Konfrontation gilt es unter allen Umständen zu vermeiden.

Dennoch: Es bedarf einer energischen Reaktion in Europa, vor allem, um die vielen Muslime, die gerade wegen des Friedens, der Freiheit, der Sicherheit und des Wohlstands nach Europa gekommen sind, vor ihren gewaltbereiten Glaubensgenossen zu schützen. Folgende Massnahmen könnten geeignet sein:

1. Wer Jihadist werden will, lässt sich nicht aufhalten. Er findet Mittel und Wege, um über die Türkei ins Kampfgebiet vorzustossen. Also muss man die Kosten für den «Abenteuer-Terrorismus» hochtreiben. Wer zum «Kriegspielen» ausgereist ist, müsste das Risiko eingehen, seine nationale Staatsbürgerschaft zu verlieren und nicht mehr nach Europa einreisen zu können. Allerdings ist die Staatsbürgerschaft ein hohes Gut, und ohne entsprechende Gesetzesänderung wäre das auch nicht zu machen. Zumindest könnte ein solcher Verlust – das Höchste, was eine Gesellschaft zu vergeben hat, ist nämlich die Staatsbürgerschaft – zum Nachdenken anregen, ob man die sichere Existenz hier zugunsten der vagen Verheissungen des Islamismus dort aufzugeben bereit ist. Also keine «Ausreiseverbote», wie europäische Regierungen und ihre überforderten Polizei- und Geheimdienstapparate sie zu exekutieren versuchen, sondern «Wiedereinreiseverbote» auf Lebenszeit.

2. Der Aufbau einer europäischen Islamistendatei mit dem Datenaustausch zwischen allen europäischen Nachbarstaaten. Auch das wäre rechtlich zunächst zu prüfen, aber Aufruf zur Gewalt und Bildung einer Terroristenvereinigung sind Straftatbestände. Die Geheimdienste Europas sollten vor allem friedliche Muslime anwerben, die in den einschlägigen Szenen aufklären könnten. Die Verrohung des Islams zu einer gewaltbereiten politischen Ideologie in Europa kann nur mit den hier lebenden, friedlichen Muslimen bekämpft werden.

3. Klare Vereinbarungen aller Regierungen Europas mit ihren muslimischen Verbänden und Vereinigungen, dass sie gewalttätige Auslegungen des Islams in ihren Moscheen ächten. Nachdem sich bereits einige muslimische Dachverbände in Deutschland vom Kalifat distanziert haben, sowie viele Privatpersonen auf Twitter unter dem hashtag #notinmyname, sollte es den übrigen Verbänden nicht schwerfallen.

4. Ein totaler Stopp von Waffenexporten in den Nahen Osten für Europas Waffenindustrie. Das betrifft vor allem Saudiarabien und Katar, die eine perfide Doppelrolle spielen. Sie unterstützen seit vielen Jahren den Terrorismus – erst al-Kaida, jetzt den IS – und beteiligen sich auf der anderen Seite an den Luftangriffen gegen den IS. Der Emir von Katar wird in Deutschland mit allen Ehren empfangen und bekommt kurz darauf die Waffen, die er wollte. Den IS wird es freuen, es zeigt aber auch die heuchlerische Politik Europas.

Warten auf den Worst Case

Wer sich klar gegen den Islamismus hierzulande und im Rest der Welt positionieren will, wird um eine entschiedene Reaktion nicht umhinkönnen. Es steht angesichts der Vorsicht und Zurückhaltung in Europa – bei allen Beteiligten herrscht eine Heidenangst, nur ja nicht der «Islamophobie» bezichtigt zu werden – zu erwarten, dass diese Reaktion ausbleibt, mit verheerenden Konsequenzen für das Bild des Islams in Europa. Was ist das bloss für eine Religion, die so viel Gewalt verträgt, ohne an sich selbst irre zu werden? Es wird wohl in Europa erst gehandelt werden, wenn der Worst Case eingetreten ist: der erste Mensch, der auf offener Strasse geköpft und dabei gefilmt wird. Dann werden alle betroffen sein und aufschreien. Man hätte es wissen können: «Biedermann und die Brandstifter» lassen grüssen.

Prof. Dr. Hans-Peter Müller lehrt Soziologie an der Humboldt-Universität Berlin.

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