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Meinung Globale Krisenherde

Die Weltordnung der vergangenen 100 Jahre zerbricht

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Das Foto vom 11. September 2014 zeigt den zerstörten Internationalen Flughafen von Luhansk in der Ostukraine
Quelle: AFP
Enthemmter Dschihadismus, völkischer Nationalismus, wankendes Staatengefüge: In der Weltpolitik kollabieren Strukturen, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Wir dürfen nicht überwältigt werden.

Unser lineares Geschichtsdenken verführt dazu, uns die Zukunft als etwas vorzustellen, das Vergangenheit immer weiter hinter sich lässt. Doch übersehen wir dabei leicht, wie tief sich scheinbar Vergangenes unsichtbar in der Gegenwart eingenistet hat, um wie ein schlafender Vulkan darauf zu lauern, wieder auszubrechen und unserer Zukunft eine unerwartete Richtung zu geben.

In der Weltpolitik bekommen wir eine solche unliebsame Wendung zur Zeit schmerzhaft zu spüren. Immer wieder werden in der aktuellen Debatte anlässlich des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren Analogien zur Gegenwart gezogen.

Die neue Konfrontation mit Russland weckt Befürchtungen, Europa könne in ähnlicher Weise in einen kriegerischen Konflikt hineinrutschen, wie dies damals der Fall war. Einem weitaus näher liegenden Zusammenhang zwischen der heutigen weltpolitischen Situation und dem großen Krieg von 1914-18 wird dagegen zu wenig Beachtung geschenkt.

Konflikte brechen auf, die längst gebannt schienen

Denn von eminenter Bedeutung für die prekären Zukunftsperspektiven einer in blutigen und gefährlichen Umbrüchen befindlichen internationalen Ordnung ist nicht so sehr dessen Anfang, sondern eher sein Ende. Zeigt sich doch an der Entwicklung in verschiedenen Teilen der Welt: Der Erste Weltkrieg ist noch gar nicht wirklich beendet. Was wir derzeit beobachten können, ist das Wiederaufbrechen von Konflikten, die in der damaligen Nachkriegsordnung gebannt werden sollten.

Das Vorrücken der Terrororganisation IS im Nahen Osten markiert den Kollaps einer Staatenarchitektur, die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs in den sogenannten Pariser Vorortverträgen von 1919–20, von denen der Versailler Vertrag nur einer war, festgelegt worden war. Damals teilten die Imperialmächte Großbritannien und Frankreich ihre Einflusszonen im arabischen Raum und zogen dazu Grenzen, die auf ethnische und religiöse Trennlinien kaum Rücksicht nahmen.

So fügten die Briten die Provinzen Bagdad, Mossul und Basra des zusammengebrochenen Osmanischen Reichs zu einem irakischen Staat zusammen, den sie ihrem Mandat unterstellten. Syrien, das ebenfalls Teil des Osmanischen Reichs gewesen war, wurde – entgegen während des Krieges gemachter britischer Zusagen für ein großsyrisches Reich – auf seine bis heute bestehende Größe zurechtgestutzt und kam, wie auch der Libanon, unter französisches Mandat.

Der arabischen Welt fehlt eine Staatsidee

Die imperiale Herrschaft endete nach dem Zweiten Weltkrieg, doch die nach 1918 festgelegten Grenzziehungen blieben im Wesentlichen bestehen. Zusammengehalten wurden die auf diese Weise entstandenen Staaten zumeist durch brutale Despotien, die sich in der Epoche des Kalten Krieges teils durch den Westen, teils durch die Sowjetunion aushalten, korrumpieren und instrumentalisieren ließen.

Versuche, eine über diese postkoloniale Situation hinausreichende, eigenständige arabische Staatsidee zu entwickeln, waren nicht von Erfolg gekrönt. Bestrebungen des panarabischen Nationalismus, die diversen Staatengebilde zu größeren Einheiten zu fusionieren, scheiterten kläglich – so die von Gamal Abdel Nasser initiierte, 1958 vollzogene Vereinigung Syriens und Ägyptens zu einer kurzlebigen Vereinigten Arabischen Republik.

In dem Maße, wie der arabische Nationalismus an Zugkraft verlor und das Ende der Ost-West-Blockkonfrontation die arabischen Despoten als Schachfiguren im geopolitischen Kalkül der Großmächte uninteressanter machte, verloren die diktatorischen Regime an Legitimation für ihre Herrschaft.

Dem Nahen Osten droht ein Dreißigjähriger Krieg

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Mit dieser droht jetzt jedoch auch das gesamte Staatengefüge zusammenzubrechen, das über viele Jahrzehnte gleichsam auf dem Stand nach dem Ersten Weltkrieg eingefroren war und die Region in einer trügerischen Stabilität hielt.

Zum Übergang zur Demokratie fehlt es den arabischen Gesellschaften an kraftvollen Akteuren und zivilgesellschaftlichen Strukturen, ein Zurück zum alten, morsch gewordenen Despotismus scheidet aber ebenso aus. In diesem Vakuum können sich ethnisch-religiöser Extremismus und mörderischer Dschihadismus enthemmt austoben.

Da die alte Ordnung in rasendem Tempo und unter unfassbaren Gewaltexzessen einstürzt, aber weder eine neue Ordnungsidee noch eine Macht in Sicht ist, die für den Übergang in eine neue Ordnung die Verantwortung übernehmen kann oder will, erscheinen die Zukunftsaussichten der Region extrem düster. Ähnelt doch vieles an den dortigen Konstellationen auf erschreckende Weise denen des Dreißigjährigen Krieges im Europa des 17. Jahrhunderts.

Gegen Putins völkischen Nationalismus ist die EU nicht immun

Doch auch Europa wird von den Gespenstern eines schon längst überwundenen Gestern eingeholt. Wladimir Putins aggressiver Versuch, als russisch reklamierte „Erde“ wieder „einzusammeln“, folgt sowjetischen Methoden und Idealen, doch bedient er sich ideologisch auch bei viel älteren großrussischen Visionen aus der Zeit des Zarenreichs.

Gegen den von Putins Russland wiederbelebten völkischen Nationalismus ist auch die EU keineswegs immun. Das zeigt sich gegenwärtig dramatisch an der Entwicklung in Ungarn. Dessen Regierungschef Viktor Orbán hat jüngst das Zeitalter der liberalen Demokratie für beendet erklärt. Im Inneren setzt er autoritäre Machtstrukturen durch, die immer mehr an die Russlands unter Putin erinnern.

Doch auch nach außen lässt er sich von dessen Beispiel inspirieren, indem er sich mit immer bedrohlicherem Nachdruck für die "Auslandsungarn" außerhalb des eigenen Staatsgebiets als zuständig erklärt. Er folgt darin dem Impetus, Ergebnisse des Ersten Weltkriegs zu korrigieren.

Der Rekurs auf Vergangenes ist oft zynische Kostümierung

War es doch der Vertrag von Trianon – einer der erwähnten Pariser Vorortverträge –, durch den das Königreich Ungarn 1920 zwei Drittel seines Staatsgebietes an diverse Nachbarstaaten verlor.

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Den neuen großungarischen Bestrebungen entspricht ein Anwachsen völkischer Ressentiments in Nachbarländern wie Rumänien, wo Ultranationalisten ihrerseits Hass gegen die ungarische Minderheit schüren. Wirkt die EU dem nicht entschieden entgegen, könnte irgendwann sogar das bisher Undenkbare eintreten: dass aus der Gruft der Geschichte gezerrte innereuropäische Gegensätze wieder gewaltsam ausgetragen werden.

Verheißungsvolles Neues überschneidet sich in der heutigen turbulenten Weltlage aufs Unübersichtlichste mit der Renaissance von Destruktivkräften aus ferner Vergangenheit. Oft ist der Rekurs auf diese jedoch bloß zynische Kostümierung. So wenig wir daher die Sprengkraft der Vergangenheit unterschätzen dürfen, so sehr müssen wir auf der Hut sein, uns von ihrem Ansturm überwältigen zu lassen.

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