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Knigge fürs Büro Lippenstift beim Lunch?

Unfallfrei zu speisen ist ein guter Anfang. Aber dann! Ein deplatziertes Schulterklopfen könnte die Karriere ruinieren. Gut, dass es Business-Knigge-Seminare gibt. An der Volkshochschule Rastatt lehrt Gräfin Sparr Manieren fürs Büro - und die Kursbesucher gieren nach Regeln.
Was meinen Sie: Dürfen Frauen bei Tisch die Lippen nachziehen?

Was meinen Sie: Dürfen Frauen bei Tisch die Lippen nachziehen?

Foto: Achim Scheidemann/ picture-alliance/ dpa

Ein Riss durchzieht Familie Kösterke, er entzweit die Generationen. Es geht dabei um die gewichtige Frage, ob man im Jahr 2013 noch Gesundheit wünschen darf, wenn jemand geniest hat.

Michaela Kösterke, 48, tut das nämlich nie, und zwar aus Überzeugung. Liest man doch überall, dass das veraltet sei. Manche Benimm-Ratgeber verlangen vom Niesenden sogar eine Entschuldigung.

Ihre 14-jährige Tochter hingegen, so klagt sie, gebrauche das G-Wort jedes Mal. Das habe ihr die Oma beigebracht. Wer hat recht? Fragen wie diese haben die kaufmännische Angestellte ins Abendseminar "Business-Knigge aktuell" getrieben, einen dreistündigen Volkshochschul-Crashkurs im badischen Rastatt. Sie und eine Handvoll weiterer Teilnehmer wollen zu besseren Menschen werden, zumindest sich besser benehmen.

Vermutlich können sie alle unfallfrei mit Messer und Gabel umgehen und würden auch nie vor den Augen eines Vorgesetzten in der Nase bohren. Trotzdem möchten sie nun ihre Manieren veredeln, in der Hoffnung, dass es dann nicht nur mit den Kollegen besser klappt, sondern vielleicht auch mit der eigenen Karriere.

Michaela Kösterke sagt, sie suche hier vor allem "die Bestätigung, dass ich es richtig mache". Ihr Mann Ralf hingegen, Konstruktionsleiter bei einem Hersteller von Schalldämpfern, erwartet "etwas mehr Sicherheit" für den Alltag.

Unterricht bei der Waldorf-Variante einer Adligen

Aktuell treibt ihn das Problem um, ob er in dienstlichen Mails wirklich immer "Sehr geehrter Herr Doktor Soundso" schreiben muss oder ob auch mal ein herrenloses "Sehr geehrter Doktor Soundso" reicht. An diesem Abend wird Kösterke erfahren: Vor einen Doktor oder Professor gehört auch in Mails immer ein Herr, außer man kennt einander gut.

So lehrt es Ulrike-Ebba Gräfin von Sparr. Ein Name, der Kompetenz qua Geburt verheißt, aber auch Schlimmstes befürchten lässt. Doch die 59-jährige Gräfin ist gar keine gespreizte Gouvernante, sondern eher die Waldorf-Variante einer Adligen. Die rundliche Frau mit der knielangen Strickjacke trinkt Leitungswasser aus einem Plastikbecher. Sie war lange Zeit Veganerin und trägt noch immer Schuhe ohne Leder.

Abwärts-Quiz

Sparr ist Kommunikationswirtin und entstammt altem brandenburgischem Adel. Vor zwei Jahren veröffentlichte sie das Buch "Benimm ist in 2010plus", erschienen in einem kleinen Verlag.

Da sie weiß, wie sehr die Besucher ihrer Kurse nach Regeln gieren, sagt sie zunächst, dass die gar nicht so wichtig seien. "Regeln ändern sich. Wer sich an sie klammert, muss immer auch deren Updates kennen. Wichtiger ist es, eine Haltung zu entwickeln. Und Fingerspitzengefühl."

Frage in die Runde: "Was glauben Sie: Wer ist die oberste Instanz für Ihr Benehmen?" Reflexartige Antwort von Frau Kösterke: "Ich." Die Gräfin nickt wohlwollend. Für Kösterkes Tochter bedeutet das: Sie darf weiter Gesundheit wünschen, wenn es ihr ein Bedürfnis ist, und sei es noch so überflüssig. Fürs Niesen um Verzeihung bitten muss im Übrigen niemand.

Dann kramt die Gräfin doch noch ein paar Regeln hervor.

  • Lektion eins: Grüßen

Wer den anderen zuerst sieht, grüßt. Und darf dabei auch gern lächeln. In der Firma gilt: Der Angestellte grüßt den Chef. Wenn der kein Stoffel ist, erwidert er den Gruß. Der Chef aber entscheidet, ob dabei auch Hände geschüttelt werden, denn wer anfasst, übt Macht aus. So wie auf dem Foto, das Angela Merkel zeigt, wie sie ihrem Parteikollegen Norbert Röttgen die rechte Hand gibt. Die linke legt sie dabei auf seine Schulter. Er als Rangniedrigerer berührt sie lediglich am Oberarm. Wie viel mächtiger sie ist, zeigte die Kanzlerin wenig später, indem sie Röttgen als Umweltminister feuerte.

Die Gräfin möchte wissen, ob die Teilnehmer begeisterte Händeschüttler seien. Das Ehepaar Kösterke ist da leidenschaftslos. Frau Dr. Orthmann, die im Gesundheitsministerium arbeitet, schüttelt schon mal gern. Nur als der Ehec-Erreger umging, kam das bei ihren Kollegen nicht so gut an. Und der Hausmanager Herr Schweinfurth berichtet, eine Zeitlang habe er so ziemlich jedem die Hand hingestreckt. Das habe er sich bei seinem damaligen Chef abgeschaut, der aus den neuen Bundesländern kam.

  • Lektion zwei: Gleichberechtigung hat ihren Preis

Davon profitieren vor allem die Männer. Es ist nicht verboten, einer Dame die Tür aufzuhalten. Aber es ist kein Muss mehr, anders als in Zeiten der Reifröcke, als Frauen kaum an die Klinke herankamen. Im geschäftlichen Umfeld stehen Frauen zur Begrüßung auf. Ähnlich nervig wie die Floskel "Ladies first" ist nur der "Kavalier alter Schule". Handkuss geht gar nicht.

  • Lektion drei: Benehmen bei Tisch

Das beginnt beim Sitzen. Mit etwas Abstand zur Lehne, den Rücken gerade, nicht mit den Ellenbogen abstützen. Serviette auf dem Schoß, vorm Trinken damit den Mund abtupfen. Fällt sie hinunter, hebt der Kellner sie auf. "Sie als Gast haben unterm Tisch nichts verloren", mahnt die Gräfin.

Stellt man sich den Teller als Uhr vor, bedeutet ein auf zwanzig nach vier platziertes Besteck: fertig. Bei Günther Jauch wurde mit dieser Antwort neulich ein Kandidat zum Millionär.

Guten Appetit oder ähnliche Wünsche hält die Gräfin für überholt. Ebenso "Prost". Sie bevorzugt: "Beginnen wir mit dem Essen." Und ein aufmunterndes Nicken vor dem Trinken. Wortmeldung von Herrn Kösterke: Bei ihm in der Firma rufe man zu Mittag laut "Mahlzeit", natürlich "nur so aus Spaß", wie er versichert.

Die Gräfin zeigt sich nachsichtig: "Wenn sich damit alle besser fühlen, ist das als Ritual okay." Als hemdsärmeliger Gruß auf Herrentoiletten erscheint es jedoch unangebracht.

  • Lektion vier: Small Talk

Beim ersten Abtasten auf keinen Fall über Religion, Parteien oder Ethnien diskutieren. Letzteres schließt ausdrücklich auch Erbfeindschaften wie die zwischen Badenern und Schwaben ein. Lästern bitte nur mit Freunden. Nie mit Fremden.

Frau Kösterke hat eine Frage zum Umgang mit Ausländern. Neulich war bei ihr in der Firma ein Japaner zu Besuch. Sie sagt, sie sei noch immer unsicher, ob sie alles richtig gemacht habe. An seiner Reaktion habe sie es nicht ablesen können.

Bei Asiaten kennt die Gräfin sich aus, sie war mal mit einem Thailänder verheiratet. Die seien am Anfang einfach zurückhaltend. Ausbleibende Gefühlsregungen müsse man nicht negativ bewerten. Das beruhigt Frau Kösterke. Und stimmt sie hoffnungsfroh, dass sie auch den anstehenden Besuch eines Inders bewältigen wird.

Herr Kösterke will noch wissen, wie man sich verhält, wenn man einem Gast einen Platz anbietet, "und der will sich ums Verrecken nicht hinsetzen". "Dann setzen Sie sich doch", sagt die Gräfin.

Königsfrage in die Runde: "Was glauben Sie: Dürfen Frauen bei Tisch die Lippen nachziehen?"

"Nein", antwortet Frau Kösterke, leichte Empörung in der Stimme.
"Doch", sagt die Gräfin.
"Aber dazu geht man doch auf die Toilette!"
"Das können Sie. Aber Sie müssen es nicht. Und Sie dürfen eine Frau, die das tut, nicht schief anschauen."
"Doch", sagt Frau Kösterke, gräflicher als die Gräfin.
"Nein", sagt diese.
"Aber dass man mit vollem Mund nicht spricht, gilt nach wie vor?", fragt Frau Kösterke verunsichert.
"Stimmt."

Frau Kösterke wirkt erleichtert.

Aus SPIEGEL JOB 1/2013

Der Büroknigge-Text ist aus dem Magazin SPIEGEL JOB mit Beiträgen aus der Berufswelt - für Einsteiger, Aufsteiger, Aussteiger. Weitere Themen sind zum Beispiel: Die Sinn- und Glückssucher der Generation Y. Gripsgewinnler - Karrierefaktor Intelligenz. Geschichten vom Gelingen und Scheitern. Wie junge Deutsche ihr Glück in Hollywood versuchen. Und noch viel mehr. Schauen Sie doch mal rein.Heft bei Amazon: SPIEGEL JOB 1/2013