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Prosopagnosie "Warum glotzt der Typ bloß so?"

"Den kenne ich nicht" Prosopagnosiker können sich keine Gesichter merken
"Den kenne ich nicht" Prosopagnosiker können sich keine Gesichter merken
© Colourbox
Wer bist denn du? Wer unter Prosopagnosie leidet, erkennt Freunde und Kollegen nicht. Die Betroffenen schweigen. Aus Scham. Schnell ist der Stempel aufgedrückt: "Der hat doch einen Knall." Eine Betroffene erzählt stern.de, wie sie trotzdem ihr Leben meistert.
Von Sylvie-Sophie Schindler

Warum glotzt der Mann vor dem Kühlregal bloß so? Er lächelt, jetzt winkt er auch noch. Jule Hauser (Name geändert) ist überrascht. Sie ist sich sicher: "Den kenne ich nicht." Erst als er auf sie zukommt, in ihren Einkaufskorb blickt und keck sagt: "Na, Frau Nachbarin, heute gibt es bei Ihnen wohl auch Spagetti, wa", fällt bei der Berlinerin der Groschen.

An seiner sonoren Ben-Becker-Stimme hat sie ihn erkannt, Martin, ihren Nachbarn. Sie wohnen seit sieben Monaten Tür an Tür, laufen sich mehr oder weniger regelmäßig über den Weg, doch jedes Mal denkt Jule Hauser: "Den kenne ich nicht." Sogar ihren Vater hat die 29-Jährige neulich, am Baggersee, nicht wieder erkannt. Ist Jule Hauser nur verträumt? Oder besonders vergesslich? "Manche glauben, ick hätte nich' mehr alle Tassen im Schrank", berlinert die schlanke Brünette los. Sie glaubte das auch oft. 28 Jahre lang. Dann erfuhr sie, dass sie unter Prosopagnosie leidet.

Ob aus Angst vor dem Zungenbrecher-Wort oder aus Verbal-Bequemlichkeit: Mittlerweile hat sich der Begriff Gesichtsblindheit eingebürgert. Doch der führt in die Irre. Wer tatsächlich unter Gesichtsblindheit leidet, ist nicht in der Lage, ein Gesicht überhaupt als Gesicht wahrzunehmen. Prosopagnosie hingegen meint die Unfähigkeit, Mitmenschen am Gesicht zu erkennen.

Der Fachbegriff leitet sich aus dem Griechischen ab: "Prosopon" für Gesicht, "Agnosia" für Unfähigkeit des Erkennens. Prosopagnostiker können also Details von Gesichtern wahrnehmen und alle Emotionen, auch in den kleinsten Nuancen, aus ihnen herauslesen. Nur: Einen besonderen Eindruck hinterlassen diese Gesichter bei ihnen nicht. Wer das verstehen will, stellt sich vor, er wäre in einem Einkaufszentrum in China - alle Gesichter kämen einem sehr ähnlich vor.

"Für mich sehen alle gleich aus"

Chef, Kollegen, Freunde, Nachbarn - "Für mich sehen die erstmal alle gleich aus", sagt Jule Hauser. In der Arbeit grüßt sie vorsichtshalber einfach mal jeden, auf der Straße läuft sie oft an Bekannten vorbei. Nicht ohne Folgen. "Manche sind mächtig eingeschnappt, weil ich sie nicht erkenne", erzählt Jule Hauser.

So gut es geht, nutzt sie, typisch für Prosopagnostiker, andere Signale, um Menschen zu erkennen. Etwa Stimme, Gang, Gestik, Frisur oder auffällige Körpermerkmale, wie etwa eine Nase la Gérard à Depardieu oder Augenbrauen à la Theo Waigel. Ein Kniff, den schon die Jüngsten kennen: Kindern mit Prosopagnosie spielen, um es sich leichter zu machen, fast ausschließlich mit Kindern, die äußerlich besonders auffällig sind.

Manche Betroffene, gerade solche, die beruflich viel mit Menschen zu tun haben, notieren sich Merkmale, legen sogar Karteikarten an. "Problematisch wird es, wenn sich das Merkmal verändert, wenn das Gegenüber plötzlich eine andere Frisur hat oder einen neuen Kleidungsstil ", sagen Martina und Thomas Grüter, Wissenschaftler am Institut für Humangenetik in Münster.

Seit über sechs Jahren beschäftigt sich das Forscherehepaar mit Prosopagnosie. Auch aus persönlicher Betroffenheit: Thomas Grüter ist seit seiner Geburt "gesichtsblind". Auch er mogelte sich über jahrzehntelang durch. Erkannte er eine Person nicht wieder, täuschte er beispielsweise ein plötzliches Handy-Telefonat vor. Beim Abholen am Flughafen wartete er immer darauf, von seiner Frau angesprochen zu werden - für Prosopagnostiker ist es komplett unmöglich, bekannte Gesichter in Menschenmassen auszumachen. "Zum Glück ist mein Mann fast zwei Meter groß", sagt Martina Grüter lachend.

Zwei Millionen Deutsche betroffen?

Die Grüters haben Hunderte von Gesprächen mit Betroffenen geführt und daraus einen umfangreichen Fragebogen entwickelt. Eine Frage lautet: Wenn einer kurz in ihr Büro reinguckt, würden sie ihn in einer Gruppe von Menschen wieder erkennen? Prosopagnostiker antworten mit Nein. Eine andere Frage: Können Sie sich Gesichter vorstellen? Auch hier verneinen Betroffene. Oder: Kommen Sie in Filmen leicht durcheinander, weil sie die Schauspieler verwechseln? Gehen Sie ungern auf Partys? Wer an Prosopagnosie leidet, kreuzt jeweils ein Ja an.

In Menschenmegen Gesichter wieder erkennen: Für Prosopagnostiker unmöglich
In Menschenmegen Gesichter wieder erkennen: Für Prosopagnostiker unmöglich
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Geht es um Zahlen, schließen sich die Grüters aufgrund ihrer eigenen Forschungen einer Harvard-Studie an, für die Leute im Internet befragt wurden. Das Ergebnis: 2,5 Prozent der Bevölkerung sind betroffen. Auf Deutschland umgerechnet wären das zwei Millionen.

"Wir halten uns mit Zahlen zurück", sagt hingegen Boris Suchan vom Institut für Kognitive Neurowissenschaft der Ruhr Universität Bochum. Dort werden unter Professor Irene Daum seit etwa sechs Jahren Experimente und Studien über Prosopagnosie durchgeführt. "Ein Fragebogen, wie ihn die Grüters ausgearbeitet haben, kann die komplexen neurologischen Prozesse nicht erfassen", sagt Suchan. Das führt zu der Frage: Was passiert eigentlich im Gehirn von Prosopagnostikern?

Kein Unterschied zwischen Häusern und Gesichtern

Ein Gesicht wieder zu erkennen, das läuft normalerweise ganz automatisch ab - bereits Säuglinge erkennen nach wenigen Wochen das Gesicht ihrer Mutter, nach neun Monaten sind sie im Gesichtererkennen schon echte Profis. Die Informationen treffen zunächst auf die Sehrinde. Von hier aus werden Signale in unterschiedliche Zentren des Gehirns weitergeleitet. Ein Bereich stellt fest: "Das ist ein Gesicht". Eine andere Abteilung erinnert sich, dass man das Gesicht schon einmal gesehen hat, eine weitere sendet das Gefühl der Vertrautheit aus. Ein viertes Areal kann dem Gesicht einen Namen zuordnen.

"Wenn in diesem komplexen Netzwerk die Interaktion fehlt oder falsch verläuft, kommt es zu Störungen, unter anderem zu fehlender Gesichtererkennung", erklärt Boris Suchan. Mit Hilfe eines Magnetoenzephalografen kann aufgezeigt werden, wie unterschiedlich die Kurven verlaufen. 170 Millisekunden nachdem der Blick auf einen Gegenstand fällt, signalisiert die Messkurve einen Aktivitätsgipfel im Schläfenlappen. Anders als bei Häusern und Bäumen ist der Ausschlag bei Gesichtern normalerweise wesentlich höher. Bei Prosogagnostikern zeigt sich kein Unterschied: Ob Häuser oder Gesichter - die Kurve ist gleich hoch.

Prosopagnostiker schweigen aus Scham

Viele Prosopagnostiker sprechen nicht über ihr Problem - aus Scham. "Wer zugibt, er könne Gesichter nicht erkennen, dem wird schnell der Stempel aufgedrückt: der hat doch einen Knall", sagt Martina Grüter. Dabei sind sich die Wissenschaftler hier einig: Prosopagnosie ist keine psychiatrische Erkrankung. Boris Suchan spricht von einem neuropsychologischen Syndrom, Martina und Thomas Grüter von einer Teilleistungsschwäche, ähnlich einer Legasthenie (Leseschwäche) oder Dyskalkulie (Rechenschwäche).

Gesichtsblindheit ist häufig angeboren, oft liegt sie in der Familie. Sie kann aber auch erst nach einer Hirnverletzung oder nach einem Schlaganfall auftreten. Übrigens: Nicht jeder, der Gesichter vergisst, hat automatisch Prosopagnosie. Bei manchen Menschen hat das Gehirn generelle Defizite: Es kann sich auch andere Sachen, wie etwa Namen, nicht merken. Andere sind womöglich extrem kurzsichtig und tun sich deshalb schwer, Leute zu erkennen.

Bislang gibt es keine Therapie. Rettungslos verloren sind Prosopagnostiker dennoch nicht. Was hilft: fleißig trainieren, noch bewusster auf andere Kennzeichen achten. Jule Hauser geht außerdem immer öfter in die Offensive. Die ersten Freunde wissen inzwischen, warum sie von "ihrer" Jule häufig übersehen werden. Und auch Nachbar Martin soll demnächst eingeweiht werden. "Aber janz langsam", sagt Jule. Nachbar Martin gefällt ihr nämlich ziemlich "jut" - auch wenn sie sich sein Gesicht in ihren Tagträumen noch immer nicht vorstellen kann. Dafür aber seine Stimme.

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